Das Hagebutten-Mädchen
nicht?« Natürlich kam dieser Mann hier rein theoretisch als Täter in Frage: Immerhin schien er ein reges Interesse an diesem Akkordeon zu haben und er erwähnte den Namen Hagebutten-Mädchen, also schien er sich wirklich damit beschäftigt zu haben. Und das machte ihn erst einmal verdächtig, zumindest theoretisch. Wencke glaubte rein intuitiv nicht ein kleines bisschen daran, dass dieses schnapstrinkende, schusselige Männlein gezielt einen Mord aus Habgier begangen haben könnte.
Trotzdem zuckte Dontjeer zusammen, als er ihre Frage verstanden hatte. »Ein Alibi? Sie wollen also tatsächlich ein Alibi von mir? Ich bin also doch…« Er leerte das Schnapsglas in seiner Hand in einem Schluck.
»Herr Dontjeer«, auch Wencke trank ein Gläschen. Sie wollte ihn auf diese Weise beruhigen und ihm das Gefühl geben, dass sie eher Freunde waren als Kommissarin und Zeuge. »So eine Frage ist reine Routine.«
»Wirklich? Hm, na ja, ich fürchte nur, ich kann Ihnen niemanden nennen, der mich nach meinem Treffen mit Minnert noch gesehen hat. Ich bin nämlich direkt in meine Pension gegangen. Diese ewige Feierei der anderen geht mir, wie gesagt, auf die Nerven, und dann habe ich es mir lieber mit einem Buch gemütlich gemacht. Im Haus Ferienliebe, im Ostdorf, Otto-Leege- Straße. Vielleicht hat mich ja doch jemand gesehen…« Er blickte wieder auf das Manuskript, welches vor ihm auf dem Tisch lag. »Wie gefällt Ihnen die Geschichte mit der Weihnachtsflut? Ich habe ein wenig gemogelt, das erwähnte Lied gab es in Wirklichkeit erst hundert Jahre später, aber es passt so wunderbar in diese Szene. Sagen Sie selbst, es ist doch eine richtige Gänsehautgeschichte!«
Es schien nicht so, dass er das Thema wechseln wollte, eher, als kehre er mit seinen Gedanken wieder in die eigene Welt zurück, in der er sich besser zurechtfand. Fast automatisch füllte er wieder die beiden kleinen Gläser. Der Hagebuttenbrand schmeckte nicht schlecht, ein wenig nach Wodka, vielleicht auch nach Apfelgeist. Wenckes Blut hatte sich schon um einige Grade aufgeheizt, vier bis fünf Schnäpse musste sie inzwischen gekippt haben, Auge in Auge mit Gerold Dontjeer. Okay, sie war im Dienst, doch eine der wichtigsten ungeschriebenen Regeln ihrer eigenen Dienstauffassung lautete: Wenn ein wichtiger Zeuge Starthilfe braucht und diese in Gesellschaft tanken möchte, sozusagen zum Aufbau einer Vertrauensbasis, dann ist maßvoller Alkoholgenuss im Dienst manchmal sogar notwendig.
Und Gerold Dontjeer war ein wichtiger Zeuge. Er hatte sich nach eigener Aussage um halb zehn mit Kai Minnert in dessen Privatwohnung getroffen, weil er sich dieses Akkordeon hatte ansehen wollen. Sein Kollege Redlefsen hätte ganz richtig gesagt, dass es etwas mit Theodor Storm zu tun hatte, weil das Instrument angeblich früher im Besitz des norddeutschen Novellisten gewesen sein sollte. Natürlich hätte diese Vermutung Interesse in ihm hervorgerufen, hatte Dontjeer erzählt. Das Hagebutten-Mädchen sei angeblich auf dem Akkordeon abgebildet.
Und dann hatte Dontjeer ihr noch einen Schnaps und dieses Heft gegeben, auf dessen Deckblatt Inselgeschichten stand.
»Die Geschichte ist wirklich sehr anschaulich beschrieben, Herr Dontjeer, ich lese nicht viel, aber soweit ich es beurteilen kann, haben Sie schriftstellerisches Talent«, rief Wencke laut und deutlich und ganz langsam. Dontjeer nickte erfreut. »Aber was hat das Ganze mit dem Instrument und diesem erwähnten Hagebutten- Mädchen zu tun?«
»Inselgeschichten haben alle irgendetwas miteinander zu tun. Und das Hagebutten-Mädchen ist eine von ihnen. Haben Sie nie davon gehört?«
Wencke machte eine entschuldigende Geste. »Wie gesagt, ich bin nicht gerade eine Leseratte.«
»Es gibt Leute, die behaupten, Theodor Storm habe vor seinem Meisterwerk Der Schimmelreiter noch eine andere, ähnlich aufgebaute Novelle geschrieben, in der er die Geschichte der ostfriesischen Inseln zum Thema machte. Angeblich soll er sich sogar direkt auf die Juister Weihnachtsflut bezogen haben, obwohl er nie einen Fuß auf diese Insel gesetzt haben soll. Ich selbst glaube diese Theorie nicht, denn es ist bislang nie ein schriftlicher Beweis erbracht worden, dass Storm tatsächlich einmal Das Hagebutten-Mädchen geschrieben hat.«
»Ach, und nun gelangt Minnert an ein Instrument aus Storms Nachlass, auf dem diese Romangestalt abgebildet ist, und möchte dieses als Beweis für die Existenz des Buches sehen?«
Wieder schenkte sich Dontjeer ein. Da
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