Das Hagebutten-Mädchen
schließlich nicht an ihr.
Samstag, 20. März, 18.53 Uhr
W er hätte je gedacht, dass diese Insel so lange überleben wird. Dieses schmale, sandige Etwas im Meer, dieses so genannte Töwerland, Zauberland. Viele glaubten, es müsse wirklich mit Zauberei zugehen, dass die Nordsee in all diesen Jahren Juist verschont hatte.
Doch die salzigen Wellen knabbern hin und wieder an den Dünen der Billspitze. Nach heftigen Sturmfluten muss das westlichste Ende der Insel immer wieder ein paar Meter sandiges Land einbüßen, und dann findet man die Steine und Brunnen, die daran erinnern, dass noch vor dreihundert Jahren die Inselbewohner hier ihre Häuser gebaut hatten. Es gab eine riesige Kirche, die als Leuchtfeuer diente und bis weit in die Emsmündung auszumachen war. Alles zerstört. Alles unterspült und überflutet von den Jahren und den Gezeiten. Eine Insel ist nun mal kein Ort für die Ewigkeit.
Die Insulaner kannten die Grausamkeit des Meeres. Jeder von ihnen hatte schon schwere Wunden durch die gewaltigen Fluten erlitten, hatte Haus und Hof oder einen geliebten Menschen hergehen müssen. Und doch blieben sie der Insel treu.
Als die Petriflut im Jahre 1651 die Insel in zwei Teile riss, da hätte man schon meinen können, es wäre vorbei mit dem Töwerland. Zwei Kilometer Strand trennten über Jahrhunderte den Osten und den Westen. Einige Unverbesserliche blieben an der Billspitze, bauten ihr neues Kirchlein aus den Steinen des versunkenen Gotteshauses und beteten in ihm, dass die nächste Sturmflut sie am leben lassen möge. Die anderen, meist die Jüngeren, liefen über den flachen Sand, der nur bei Ebbe trockenen Fußes zu überqueren war, und errichteten neue Häuser in den Dünen des Teiles der Insel, welchen man heute das Loog nennt. Es gab nicht viele Steine, in den ersten Jahren reichten die roten Klinker gerade für eine Hand voll winziger Häuser. Die Insulaner waren nicht gerade fromm und es gibt genügend Geschichten, die von Strandräuberei und ähnlich gottlosen Umtrieben erzählen, doch auf eine Kirche wollte man auch hier im Loog nicht verzichten.
Nur am Weihnachtsabend traf man sich noch in der größeren Billkirche, Ost und West, Bill und Loog, und man betete gemeinsam für das Schicksal der geliebten Insel.
So auch am Heiligen Abend im Jahre 1717. Alle waren da, Alte und Junge und Kinder, aus vielleicht fünfzig Mündern hörte man das Lied der Insulaner.
»Wie mit grimmgen Unverstand Wellen sich bewegen…« Man musste laut singen an diesem Weihnachtsabend, damit man den tosenden Nordwest-Sturm übertönte, der nicht nur die kleine Kirche, sondern die ganze Insel, die gesamte Küste schon seit ein paar Tagen wütend bekämpfte. Und die Kanonenschüsse, die von der Seeseite herüberwehten, die Schreie der Matrosen, die mit ihrem englischen Kriegsschiff auf eine tückische Sandbank gelaufen waren und nun hilflos mit ansehen mussten, wie sich Welle für Welle gegen die Planken warf, wie Risse in den Bootsrumpf brachen und der Mast durch die Gewalt des Orkans zersplitterte.
»Help! HELP!» »… nirgends Rettung, nirgends Land vor des Sturmwinds Schlägen…«
»We don’t wanna die!«
»… Einer ist’s, der in der Nacht, einer ist’s, der uns bewacht…«
Es war zu gefährlich, sie retten zu wollen. Lebensgefährlich! Wenn eine Truppe Männer mit dem alten Kahn ausrücken sollte, der unterhalb der Kirche von der starken Brandung wie eine Nussschale hin und hergeworfen werden würde, dann würden bestimmt nicht alle überleben. Es gab nicht viele männliche Insulaner, die stark und widerstandsfähig genug für einen solchen Einsatz waren. Und die wenigen brauchte man hier auf Juist. Man konnte sie doch nicht in den sicheren Tod schicken. Heute war Weihnachten.
»Help!» »… Christ, Kyrie, du wandelst auf der See!« Amen.
Mein Gott! Es gab doch Regeln, an die sich auch die Nordsee zu halten hatte. Als die Gemeinde jedoch nach dem Segen aus der winzigen Kirche trat, sah sie auf den ersten Blick, dass sich das Meer weder nach dem Niedrigwasser noch nach dem günstigen Mond richtete, sondern unaufhörlich Wasser auf die Insel zuschob, als sei Springflut. Die Loogster machten sich auf den Weg. Zwei Kilometer sind sehr weit, wenn man auf nassem Sand und mit der Angst im Nacken durch die Dunkelheit marschiert.
Keine Kanonenschüsse mehr, keine Hilfeschreie von weit her, die See hatte wieder einmal gesiegt. Das schlechte Gewissen verfolgte die Loogster. Sie fassten ihre kleinen Kinder an den
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