Das Hagebutten-Mädchen
ganz neue. Und deswegen schäme ich mich ja auch so, dass ich nach all den Jahren noch immer so ein mieser Bruder bin.«
»Sie wussten von dem Verhältnis, das Ihre Nachbarin mit Ihrem Schwager hat?«
Er nickte und schaute sie immer noch nicht an.
»Und Sie machen sich Vorwürfe, sie nicht darüber aufgeklärt zu haben?«
»Nicht nur das!« Er wischte sich mit der flachen Hand über das Gesicht, weinte er etwa? »Ich habe mich sogar mit meinem Schwager zusammengetan, habe mich mit ihm gegen meine Schwester verbündet. Wir haben einen Plan gehabt, wie wir unsere Ziele erreichen können, und wir haben dabei in Kauf genommen, dass es für Astrid das Ende sein musste.« Jetzt drehte er sich zu ihr. Nein, Wencke sah keine Tränen, doch sie sah Verzweiflung in seinem Gesicht. Farblose Lippen und flatternde Augenlider, er hielt den Kopf resigniert zur Seite. »Ach, wissen Sie, er wollte sich von Astrid scheiden lassen und wir wollten gemeinsam die Villa Waterkant kaufen, das heißt, Gerrit hat das Vorkaufsrecht, aber ich habe das Geld. Er wäre seine Frau losgeworden und hätte sich mit Seike und vielleicht auch mit Michel ein heiteres Leben machen können von den Zahlungen, die ich an ihn geleistet hätte. Das war immer mein Traum gewesen: Mein eigenes kleines Hotel. Keine Fahrpläne mehr erstellen und Frachtbriefe kontrollieren und so. Das hätte ich einfach verdient.«
»Aber?«
»Sie wissen es doch schon! Wir hätten das alles auf Kosten von Astrid gemacht. Ihr Scheitern, die Scheidung, das wäre unsere Chance gewesen.«
»Und das ist alles?« Wencke war hellhörig geworden in dem Moment, als er aber ich habe das Geld gesagt hatte. Dahinter musste sich mehr verbergen, dort musste sie nachbohren. Das Geld konnte schließlich nicht aus dem Nichts aufgetaucht sein. Wäre es schon länger vorhanden gewesen, hätten Gerrit Kreuzfeldt und Henner Wortreich diese Pläne schon viel eher in die Tat umsetzen können. Und irgendwie musste sich das Ganze auch noch mit dem Freitagabend auf einen Nenner bringen lassen. Was hatte Kai Minnert erfahren, als er bei Seike an die Tür geklopft und Gerrit Kreuzfeldt dort gesehen hatte? Warum war er so außer sich gewesen? Es musste einen eindeutigen Zusammenhang geben, sonst hätte sich durch Minnerts Tod nicht alles so dramatisch zugespitzt. Immerhin saß hier ein Mann neben ihr, der nicht mehr zu wissen schien, wie das Leben weitergehen sollte. Der das Gespräch gesucht hatte und nun so nach und nach mit der Wahrheit herausrückte. Vielleicht hatte er diese Wahrheit bislang selbst noch nicht so recht begriffen. Erst jetzt ging sie ihm auf. Und er wollte Wencke alles beichten.
»Nein, das ist nicht alles. Ich habe nicht nur Astrid übel mitgespielt.«
»Sondern?«
»Das können Sie sich doch denken, Frau Kommissarin. Oder nicht? Ich habe meinen Freund mit hineingerissen. Das werde ich mir nie verzeihen.«
Und jetzt konnte Wencke mit einem Mal sehen, warum er seinen Kopf so seltsam zur Seite verrenkte. Hinter seinem rechten Ohr tauchte ein schwarzes Loch auf, dahinter ein metallener Lauf und eine Hand, deren Fingergelenke fast weiß hervortraten.
Er hatte sich eine Pistole an den Kopf gedrückt, sah aus wie eine Walther 7,65. Sie hörte das Klicken. Die Waffe war entsichert.
Sonntag, 21. März, 13.54 Uhr
W äre die Situation nicht so verdammt ernst gewesen, dann hätte Sanders diese Suchaktion Spaß gemacht. Rüdiger Glaser stand an seiner Seite, er kannte die Insel besser als Sanders und steckte die Gebiete mit farbigen Nadeln auf dem Inselplan ab. Sanders teilte die Mannschaften ein.
»Fünf Leute an die Goldfischteiche, vom Altenwohnheim bis zur Wilhelmshöhe, wir brauchen mindestens fünf Leute!«, kommandierte Glaser.
Sanders fuhr mit dem Zeigefinger die Liste entlang, auf der sämtliche Teilnehmer des Inseltreffens aufgeführt waren. »Borkumer Gitarrenkreis!«, legte Sanders fest.
»Und die Wangerooger Theatergruppe kriegt das Deichgebiet vom Segelhafen bis zur alten Müllkippe.«
»In Ordnung!« Glaser schrieb die Aufteilung penibel auf den großen DIN-A3-Malblock seiner Tochter. Eifrig hatte sie den Papierbogen vorbeigebracht und sich gleich bereit erklärt, mit ihren Teenager-Freundinnen ebenfalls das Deichgebiet abzusuchen. Eine dienstbeflissene Familie, dachte Sanders: zuerst das Betttuch bei Minnerts Laden, die Turnschuhe für Wencke und jetzt der Malblock. Er wünschte sich mehr solcher nützlicher Kollegen.
Sobald Glaser das Plakat an die Eingangstür
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