Das Hagebutten-Mädchen
Ereignissen, auch wenn sie so etwas immer ungern zugibt. Drücken Sie sie mal ganz tüchtig. Sollte es Ihnen ein wenig widerstreben, tun Sie es mir zuliebe. Wencke mag ja immer so hart tun, aber eigentlich ist die Frau sehr sensibel, glauben Sie mir! Und Sie selbst sollten sich auch nicht überschätzen. Sie wissen ja, ich als Gerichtsmediziner kenne mich ziemlich gut damit aus, wie es im Inneren der Menschen aussieht.«
Sanders mochte Riegers makabren Humor, in diesem Moment war er sogar ein Stück weit dankbar dafür. Er brachte ein wenig Leichtigkeit in die Situation. »Werde ich tun!«, versprach er und legte auf. Und dann wurde ihm schlecht. Der Speichel strömte in seinen Mund, aber er konnte den ersten Würgereiz unterdrücken. Vor ihm legten sie gerade eine Decke über Henner Wortreich. Warum eigentlich erst jetzt? Sanders wollte nicht hinsehen und darüber nachdenken müssen, dass in diesem Körper eine Kugel aus seiner Dienstwaffe steckte. Ihm war klar, dass der Schuss alles ändern würde. Der sicher geglaubte Aufstieg, der ihn die Karriereleiter hinauf ins Emsland zur GER führen sollte, war nun bis auf weiteres versperrt. Ein tödlicher Schuss auf einen Verdächtigen, ohne Vorwarnung und ohne wirklich klaren Kopf, reichte dazu vollends. Er hatte in diesem Moment nur Wencke gesehen und die Pistole und den gezielten Blick von Henner Wortreich. Und dazu war noch die Angst vorher so in ihm aufgestaut gewesen, da er Wencke nicht erreichen konnte, er diesen Waffenschein gefunden hatte und die Zöllnerfrau ausgesagt hatte, dass Wencke mit ernstem Gesicht in Richtung Deich geführt worden war. Sein Schuss war eine Kurzschlussreaktion gewesen. Es war ihm dabei nur um Wencke gegangen, um keinen anderen. Nie hätte er gedacht, dass ihm so etwas passieren könnte. Er war doch ein sachlicher Mensch, hatte immer einen kühlen Kopf bewahrt, hatte stets die Übersicht behalten. Bis gerade eben. Da hatte die Angst um Wencke alles in ihm umgedreht. Und er hatte geschossen. Es würde Untersuchungen geben, endlose Befragungen und Protokolle. Er würde nicht umhinkommen, sich damit zu beschäftigen, dass er soeben einen Menschen getötet hatte. Doch jetzt brachte es nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Was nutzte es, wenn er jetzt schlappmachte? Wo war Wencke? Wo sollte er nach weiteren Spuren suchen? Entschlossen spie Sanders die Spucke ins Deichgras.
Das Handy piepte erneut.
»Sanders?«
»Wencke hier.«
»W…«
»Ich hatte die ganze Zeit mein Handy ausgeschaltet. Muss wohl gestern Abend in berauschtem Zustand geschehen sein, sorry!«
»Nicht so schl…«
»Ich bin jetzt so weit!«
»Wie?«
»Ich sitze am Strandaufgang beim Cafe Strandkorb und warte auf dich. Kannst du?« Hatte sie ihn tatsächlich geduzt?
»Bin sofort da!«, sagte er schnell. Aber da hatte sie das Gespräch schon fast unterbrochen. Als er zum Fahrrad lief, rief er Glaser zu, er solle sich um alles Weitere kümmern. Wichtige Beweisaufnahme, könnte etwas dauern, über Handy erreichbar, danke schön.
Von der Fahrt bekam er nicht viel mit, nur das Knarzen seines Sattels, als er mit aller Kraft in die Pedale trat, durchs Ostdorf raste, an der katholischen Kirche vorbei und den Dünenweg hinauf. Während der Fahrt lockerte er endlich seinen Krawattenknoten. Schließlich kam er ungeduldig auf der Dünenhöhe an und sah Wencke im Sand sitzen, barfuss, die Zehen im Sand vergraben, den Kopf zurückgeneigt und die Augen geschlossen. Sie schien ihn nicht zu hören und blieb genau so sitzen, bis er direkt neben ihr stand, laut schnaufte und überlegte, was er denn nun sagen sollte. Er fühlte sich von der Situation überfordert und war froh, als sie die Augen öffnete und ihm einfach nur zunickte, aufstand und vor ihm mit langsamen Schritten zum Strand hinunterging.
Es lag einiges Zeug im Sand: Plastikeimer und Fischernetze und jede Menge Holz. Im Winter hatte das Wasser einmal bei starkem Nordwestwind bis an die Dünenkette herangereicht, nun war es noch gut fünfzig Meter entfernt, obwohl nur noch eine Stunde bis zum Hochwasser war. Viel Platz hier, dachte Sanders, genug Platz für Wencke und mich. Sie liefen der tief stehenden Sonne entgegen und mussten beide die Augen zusammenkneifen. Durch die Wimpern hindurch schaute Sanders auf das Meer. Es war nicht laut heute, sondern schob sich sanft auf den Inselsand.
»Ich glaube, mir geht es jetzt etwas besser«, sagte Wencke schließlich. »Habe ein wenig nachgedacht und viel zu viel geraucht.
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