Das halbe Haus: Roman (German Edition)
der Fluss gar nicht so ruhig fließt und dass die Schlote tüchtig qualmen. Seit neuestem werden in den Fabriken Militärtuche und Uniformmützen gefertigt, und auch der Sportflugplatz wird von lauten, schweren Maschinen genutzt. Am linken Flussufer produziert Borsig Maschinengewehre und Flugzeugkanonen. Weil die Männer immer knapper werden, müssen Martha und Betty Gewehrläufe drehen. Bei Mückeberg hat man Kasernen aus dem Boden gestampft, die ein ganzes Infanterieregiment beherbergen. Das Städtchen ist voller Soldaten, noch grüßen sie galant.
In der Reklame heißt es, dass sich die Frauen an der Heimatfront für ihre heldenhaft kämpfenden Männer schön halten sollen. Mit Scherk Gesichtswasser, Kaloderma und Birkenhaarwasser von Dralle sollen sie sich pflegen. Kaufen kann man die Produkte nicht, es gibt sie nur in der Reklame.
Hüte kann man kaufen, zu Dutzenden liegen sie in den Regalen der Firma Friedrich & Söhne, aber zu oft schweigt das Messingglöckchen über der Tür. Es sind schwere Zeiten, der Hut als Zeichen der Intelligenz gilt gerade nicht viel. Das sagt Viktor Friedrich, einer der beiden jungen Chefs. Den anderen sieht man kaum.
Schon einmal waren die Zeiten schlecht gewesen für die Firma Friedrich. Nach dem Krieg hatte sich der Senior selbständig gemacht. Bei Lehmann hatte er den Fez gefertigt, jenen roten krempenlosen Hochhut mit Quaste, wie er überall im Orient getragen wurde. Lehmann belieferte das gesamte Morgenland, die Marokkaner, die Perser und vor allem die Türken. Das, so dachte der Hutmachermeister August Friedrich, könne er selbst besorgen und eröffnete seine eigene Manufaktur. Im Sommer 1925 jedoch erließ Atatürk, der den Panamahut bevorzugte, das Hutgesetz. Über Nacht war der Fez verboten und die Firma Friedrich um ein Hasenhaar bankrott. Ein Jahr später kam das Hochwasser, zwei Jahre darauf das Notgeld. Vor Sorge und Gram starb der Gründer und seine Frau gleich mit. Die Zwillinge, beide Meister ihres Fachs, übernahmen die Firma, aber nur einer arbeitete.
Der andere randalierte. Mit seinen Kumpanen beschmierte er die Schaufenster der jüdischen Händler, Deutschland erwache, Juda verrecke, nieder mit der Reaktion! Und im November 38 half er gründlich mit, die kleine Synagoge am Kastaniengraben zu zerstören. Danach fuhren sie hinaus zum jüdischen Friedhof. Wäre ihnen eine Hebräerin oder eine Judenhure in die Hände gefallen, so hätten sie auch die geschändet. Ansonsten verbrachte Horst Friedrich seine Freizeit auf dem Sportflugplatz oder in der Luft.
Seinem Bruder Viktor war es zu verdanken, dass die Firma wieder lief. Er entwickelte ein neues Sortiment hochwertiger Herrenhüte, das Jahr um Jahr mehr Käufer fand. Bis die Nazis den Hut in Verruf brachten. Viktor Friedrich hasste alles Grobe und Hässliche, er verachtete das völkische Getöse. Die einzige Schlacht, die er focht, war die mit dem Filz: Wasser, Druck und Dampf – Hütemachen ist Kampf. Aus einem gewalkten Lappen einen steifen Hut mit Beulen, Kanten, Krempe zu fertigen, also aus einem Nichts ein Etwas zu schaffen, nur mit Wasser und ohne Klebstoff – das war eine hohe Kunst. Mochten die großen Fabriken mehr und mehr in Wollhüten und -mützen machen, Wilke, Steinke, Brecht & Fugmann und allen voran die BGH AG , er verwendete nur Filze aus feinstem Hasen- oder Kaninhaar.
Aus der Appretur kam der Filz in die Wringmaschine, von da in die Dampfglocke. In der Anformmaschine wurde der Stumpenrand gezerrt und gezogen, es folgte das Einschneiden der Krempe. Das Bügeln, Trocknen, Bügeln, Bürsten, Futtern besorgten abwechselnd der Chef und seine Arbeiterinnen. Polina und Liesl nähten das Schweiß- und das Hutband ein. Nach drei Tagen war der Hut geschaffen, und siehe da, er war gut. Im Regal wartete er auf einen Kopf.
Wenn das Türglöckchen doch einmal läutete, eilten Polina und Liesl gemeinsam in den Verkaufsraum. Sie lachten den Postboten oder den Lieferanten an und fragten, ob denn ein stolzer Kopf nicht einen ebensolchen Hut verdiene. Außerdem regne es in Strömen, es sei die Zeit der Sommergewitter. So wie das Fell des Hasen jeden Regen überstehe, so überstehe auch ein Hut aus Hasenhaar jeden Wolkenbruch.
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»Die haben schon gepoltert«, sagt das Schattenmädchen.
Vor diesem Mädchen liegt das Unglück. Es wird den falschen Menschen folgen, es wird verstoßen werden, es weiß noch nichts davon, wie auch, aber es ist schon jetzt geschieden und verwaist und auf ruppige Art einsam
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