Das halbe Haus: Roman (German Edition)
und lieb nur zu Tieren. All das steht auf ihrer dunklen Stirn.
»Du hast geschlafen, und die haben schon gepoltert«, wiederholt das Mädchen. »Ich soll dir Bescheid geben.«
»Warum kommt Jakob nicht. Er hat mich noch nicht einmal richtig begrüßt.«
»Er sitzt im Birnbaum und spricht mit niemandem.«
»Warum spricht er nicht.« Sie richtet sich auf. Vom Gaubenfenster gleitet der Tag ab. Sie ist weich wie ein Kind.
»Weiß nicht, so eine Art Gelöbnis. Wenn man was von ihm will, muss man es aufschreiben, und er schreibt zurück. Je später und dunkler, desto schwieriger.«
»Seit wann redet er nicht?« Ein Keil Flurlichts liegt auf dem Boden, die Koffer kauern im Schatten, niemandes Anzug, niemandes Seife, aus Knochen geseiht.
»Seit einer Woche. Seit er von der Schule geflogen ist.«
»Er ist von der Schule geflogen? Warum ist er denn von der Schule geflogen?«
»Na, er ist doch delegiert worden. Auf die KJS . Friede, Freude, Eierkuchen. Da war er zwei Wochen, und dann haben sie ihn rausgeschmissen, große Krise.«
»War er nicht gut genug?«
»Ziemlich. Aber Frank sagt, es hat nichts mit ihm zu tun oder wie gut er ist. Es ist Sippenhaft, sagt Frank. Sie haben es eigentlich auf ihn abgesehen und lassen es an Jakob aus.«
»Warum haben sie ihn dann überhaupt aufgenommen?«
»Warum, warum«, sagt das Mädchen. »Du solltest dich beeilen, wenn du noch was abkriegen willst.«
Das Mädchen tritt aus dem Zwielicht über die Schwelle in den beleuchteten Flur. Sie ist groß, schlank, wird gerade zur Frau. Sie trägt jetzt keine Weißwäsche, sondern nur ihr zukünftiges Unglück und ein Palästinensertuch. Zweimal im Leben treten wir aus einem Raum in einen anderen. Der letzte hat keine Fenster, nur Spiegel.
»Du bist Leonore«, ruft sie dem Mädchen hinterher und denkt: Du bist Anni.
»Es gibt sogar Kaviar, wenn dich das nicht anekelt, Oma Polina«, ruft das Mädchen von der Treppe zurück.
Es gibt sogar Kaviar, denkt sie. Mo und seine Beziehungen. Von draußen hört sie Gelächter. Nichts bleibt, selbst der Tod ist nicht ewig. Sie hat Menschen verloren, aber nie die Fassung. Soll er sich doch hertrauen, die ganze lange Strecke vom Bodensee. Ich werde jetzt hinuntergehen und mich zwischen die Verrückten setzen. Ich werde nach dem Jungen sehen und ihn zum Sprechen bringen, wie ich ihn zum Lesen gebracht habe. Ich werde nach sechsund-, siebenunddreißig Jahren wieder Kaviar essen.
Draußen gibt es ein großes Hallo, und endlich drückt sie jemand. Cora zieht sie an ihren üppigen Busen, Jasper umarmt sie, und Mo hebt sie kurz in die Höhe.
»Moritz, ich bin doch kein junges Mädel mehr.«
»Heute schon.«
Auf der Festtafel stehen Kerzen in Papiertüten und Sonnenblumen in hohen Vasen, darüber schimmern Lampions. Vor den dunklen Büschen, worin zwei Katzenkreuze stehen (Morle und Felix), endet die Tafel. Da sitzen Eva und Frank, hochgemut und in der Körpermitte gespalten: Pikkönig und Herzdame. Der Tag ist fast aufgebraucht, und aus dem Osten quellt Ruß. Köpfe werden gewendet, Schatten und Feuer teilen die Gesichter, Gelächter und Gespräche springen kreuz und quer über die Tafel, die Glutschrift der Raucher ist unlesbar.
Am Grill steht der schwere Wirt von der Johannaburg in langer Lederschürze, bewaffnet mit Zange und Gabel. Er wendet das Fleisch, dreht das Spanferkel am Spieß, ein Gießer vorm Hochofen oder ein Folterknecht.
Das Käserad ist gebrochen und liegt auf der Werkbank in der Garage. Dort ist das Büfett aufgebaut, Blut von Roter Beete und Krumen von Brot auf dem Tischtuch. Die Teller sind buntgemischt, die weißen mit Goldrand zwischen denen mit Zwiebelmuster. Besteck in Bierkrügen, Senf und Senfgurken und die geleerten Auflaufformen. Sie kratzt den letzten Rest Gratin heraus, es schmeckt ihr. Sie isst einen Löffel Kaviar und noch einen. Es ist wirklich alles da. Die salzige Brut der Störe.
Eine Frau macht sich an der großen Zinkbadewanne zu schaffen, in der Bier- und Wodkaflaschen schwimmen. Die Frau fischt darin, und der Ärmel ihres Samtpullovers wird nass. Sie flucht: »Schmitten, du bleedes Aas, du dumme Kuh, du dusslige Rohrdommel.« Dann merkt sie, dass sie nicht allein ist, und lacht. »Ich sollte aufhören mit dem Saufen«, sagt sie, »ich muss ja noch fahren.« – »Ja«, sagt sie, »trinken Sie nicht weiter, wenn Sie noch fahren müssen. Oder wir rufen Ihnen ein Taxi. Es gibt eine Telefonzelle ein paar Straßen entfernt.« – »Man kriegt kein Taxi in
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