Das halbe Haus: Roman (German Edition)
diesem Land«, sagt die Frau. – »Ich schon«, sagt sie. – »Man kriegt auch keinen Mann.« – »Sie sollten wirklich nicht mehr trinken. Und die Nerven behalten.« – »Da weißt du nämlich auch nicht weiter, du gute Fee«, sagt die Frau und torkelt über Kronkorken nach draußen, eine Flasche in der Hand.
Eine feine Mondsichel ist in das Kohlepapier geritzt. Wenn der Oktobermond in den Erdzeichen Steinbock, Jungfrau oder Stier steht, spricht man von Kältetagen. Das sind Tage, an denen einen friert, obwohl schönstes Wetter herrscht. Man muss sich und die Kinder warm kleiden. Ein dünnbekleideter Junge sitzt im Birnbaum und wirft die Früchte hinab. Er will weg sein, und gleichzeitig soll man bemerken, dass er weg ist. Im Halbrund brennen Fackeln, Schatten huschen vorbei.
»Jakob«, ruft sie in das Geäst. »Komm doch einmal herunter, Junge. Wir haben uns noch gar nicht richtig begrüßt.« – Der Junge schweigt und regt sich nicht. – »Ich habe dir auch ein Geschenk mitgebracht.« – Der Junge schweigt. – »Es ist ein richtig … cooles Geschenk. Wenn du herunterkommst, sage ich dir, was es ist.« – Der Junge schweigt. Er war schon immer anspruchsvoll bestechlich. – »Es ist ein ziemlich gutes Geschenk. Soll ich es etwa wieder mitnehmen?« – Der Junge schweigt. Stattdessen spricht das Mädchen, das neben sie getreten ist: »Ich hab doch gesagt, dass er die Klappe hält. Du musst ihm alles aufschreiben, und er liest es dann oben mit einer Taschenlampe.«
»Das ist doch völlig übertrieben«, sagt sie.
»Ja, aber es geht schon seit Tagen so.« Leonore reicht ihr einen linierten Ringblock und einen Filzstift. Im Licht einer Fackel schreibt sie auf ihrem Oberschenkel: »Mein lieber Jakob, wir haben uns so lange nicht gesehen, und nun sitzt du da oben, und ich bin hier unten. Dabei habe ich mich so auf dich gefreut. Ich habe dir ein kuhles Geschenk mitgebracht. Komm doch bitte herab und bringe mir eine Birne mit. Deine Oma.«
Leonore steckt sich den Stift in die Gesäßtasche, nimmt das Heft zwischen die Zähne und klettert wie ein Eichhörnchen zu dem Schatten. Ein Taschenlampenlicht scheint auf. Dann erlischt es, und Leonore steigt wieder herab. Sie gibt ihr eine Birne und den Block. Beide treten zur Fackel und lesen: »Guten Appetit.«
Ein Fauchen lässt sie aufzucken. Neben ihnen lodern Flammen auf, Funken sprühen, es knackt und stinkt nach Benzin. Jasper hat das Lagerfeuer auf dem Rondell angesteckt, die Gäste klatschen. »Stockbrot für die Kinder«, ruft er, »lasst euch das nicht entgehen.« Der Junge sitzt jetzt über dem Feuer.
Während die anderen Kinder Hefeteig um ihre Stecken wickeln, bittet Jasper um die Aufmerksamkeit der Gäste. Sie und das Mädchen gehen zurück zur Festtafel.
»Die Frauen haben einen herben Verlust zu beklagen«, sagt Jasper. »Morgen geleiten wir den berühmtesten Junggesellen der Stadt zum Altar.« Allgemeines Ah und Oh. »Lange hat er sich mit Händen und Füßen gesträubt, doch dann kam eine, und sie haben einander erkannt, wie es so schön heißt.« Er macht eine Pause, und alle Welt sieht zu Eva hin, die entschuldigend die Schultern hebt.
»Für den Fall, dass du was übersehen hast«, sagt Jasper, »musst du jetzt gut aufpassen, Eva.«
»Da gibt es nichts zu übersehen«, ruft Frank, und die Heiterkeit kennt keine Grenzen.
»Wir«, sagt Jasper, »kennen Frank ja schon ein wenig länger, und es ist unsere Pflicht, der Braut reinen Wein einzuschenken. Damit sie hinterher nicht sagen kann, keiner hätte sie gewarnt.«
Eva tut unsicher, und Frank ruft, die Faust schüttelnd: »Nu pogodi!«
»Hier also«, sagt Jasper, »sehen wir Frank.«
Ein Kamel stolpert den schmalen Weg zwischen den Rosenbeeten auf das Feuer zu und bleibt davor stehen. Ein paar Frauen lachen schrill, die Brote der Kinder verkohlen.
»Ich bin Frank, das Kamel«, sagt das Kamel durch eine Öffnung im Filz. Es hat Ohren, einen Schwanz mit Quaste und zwei Höcker. Eine Frau kann nicht aufhören zu lachen.
»Hallo Frank.«
»Hallo Wärter«, sagt das Kamel.
»Woher weißt du eigentlich, dass du ein Kamel bist?«, fragt der Wärter das Kamel.
»Ich habe ein Fell.«
»Aber Kamele haben ein sandfarbenes Fell. Sandfarben wie die Wüste. Deins ist irgendwie anders, schmutzig. Und du bist nicht in der Wüste. Du bist hier im Zoo. Schau nur, all die Menschen, die dich begaffen.«
Das Kamel schwenkt seinen Kopf zu den Gästen. Die lachende Frau muss die Tafel verlassen
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