Das halbe Haus: Roman (German Edition)
habe Viktor eingeladen«, erklärt Frank. »Vaters Bruder.«
»Wohin hast du Viktor eingeladen«, sagt sie. Sie kann sich nicht erinnern, dass Frank je das Wort »Vater« gebraucht hätte, außer für sich selbst.
»Wir haben ihn ausfindig gemacht«, sagt Eva. »Eine Freundin, die reisen darf, hat ihn im Telefonbuch von Lindau gefunden, und dann hat Frank ihn angerufen.«
»Lindau am Bodensee«, sagt Frank.
»Frank findet es schade, dass er seinen Onkel überhaupt nicht kennt«, sagt Eva, »und der ihn nicht. Wenn schon sein Vater nicht mehr lebt, dann sollte er wenigstens eine Verbindung zu dessen Bruder haben nach all den Jahren des Schweigens.«
»Warum?«, fragt sie Frank, aber wieder antwortet Eva:
»Das würde ihm den Vater zwar nicht ersetzen, aber er hätte immerhin eine Vorstellung von seinem Vater.«
»Sie waren ja Zwillingsbrüder«, sagt Frank, als ob sie das nicht wüsste.
»Er lebt also noch«, sagt sie.
»Er ist fünfundsiebzig und will die ganze Strecke mit dem Auto fahren«, sagt Frank. »Er war zuerst sehr erstaunt, und dann hat er sich gefreut, glaube ich. Es ist komisch«, sagt er, »die vielen Jahre über habe ich nicht daran gedacht, Kontakt zu ihm aufzunehmen, und du auch nicht. Erst die Gespräche mit Eva haben mich darauf gebracht. Eva hat keinen Draht mehr zu ihren Eltern, das Tuch ist zerschnitten, aber sie kennt sie wenigstens.« Er sieht über ihren Kopf hinweg. »Jetzt ist es für mich an der Zeit, die Lücken zu schließen und ein Stück Familie zurückzugewinnen.«
»Und ein Stück von dir«, sagt Eva, die keinen Draht mehr zu ihren Eltern hat.
»Auch ihr könntet euch drüben mal treffen«, sagt Frank, »in Itz oder Lindau. Ihr müsst euch doch nahegestanden haben.«
Weshalb, du dummer Bengel, stehe ich wohl nicht im Telefonbuch, will sie beinahe sagen.
»Ihr habt ein paar Jahre lang in derselben Stadt gewohnt«, sagt Frank. »Vater und er haben zusammen ein Geschäft betrieben.«
»Er war ein schlechter Hutmacher.«
»Im Westen hat er Immobilien verwaltet. Er hat ein Vermögen gemacht.«
»Er war ein schlechter Hutmacher und ein schlechter Mensch.«
»Wieso sagst du das. Er hat uns Pakete geschickt nach dem Krieg.«
»Ich will hier schlafen«, sagt sie. Ihr Kopf ist ein Grab toter Käfer. »Ich bin jetzt sehr müde«, sagt sie zu Eva. »Bitte seien Sie so lieb.«
»Ich fände es richtig, wenn wir du sagen würden«, sagt Eva, die Jüngere, die Siegreiche.
★
»Heidelberg des Ostens« wurde das Städtchen genannt, das seit sieben Jahrhunderten treue Wacht im Südosten der Kurmark hielt. Über Frankfurt kamen die Hauptstädter mit dem Blütenzug, um die Farbenpracht zu bestaunen, Kerschen, Bern’ und Reneklaun. Ein Fluss, einen Steinwurf breit, teilte die Altstadt von der Neustadt, eine Brücke mit rauschendem Wehr verband sie wieder. Flussab lagen Sandbänke, auf denen sich die Schwäne und später im Jahr die Badenden ausruhen konnten. Ins Wasser ragte das Stadttheater, gegenüber rauchten die Schlote der Tuchfabrik Lehmann & Richter. Am Ufer und in der Stadt befanden sich weitere Fabriken. Weltbekannt durch ihre Güte waren die hiesigen Tücher und Hüte. Tati kannte sich mit Tüchern aus, und seine älteste Tochter, die gelernte Modistin, hatte Geschmack und geschickte Hände. Schnell fand sie Anstellung in einer exquisiten Hutmanufaktur, deren Verkaufsraum auf den Marktplatz blickte. Den Markt umschlossen eine gotische Kirche, ein Renaissance-Rathaus und barocke Bürgerhäuser. Vom Ersten Weltkrieg waren die Gebäude des Städtchens verschont geblieben, aber nicht seine Familien, wie die Kriegerdenkmäler bezeugten.
In solch einem schmucken Städtchen kann man fürs Erste vergessen. Man kann nach Feierabend hinauf zum Engelmannsberg oder nach Schönhöhe spazieren und bei einem Glas Poetko’s Apfelsaft oder einem Obstwein rasten. Man kann die Himmelsleiter mit ihren insgesamt 138 Stufen hinaufsteigen, Stufe für Stufe kann man zählen, wenn man mit einem Verehrer hinaufgeht, und weil der nicht aufhören will mit dem Gehen, kann man beim Abstieg nachzählen. Der Verehrer weiß wohl, dass es einen Bräutigam gibt, doch wenn man ihm partout keinen Kuss schenken will, dann ist man auf einmal eine dahergelaufene Balkanesin, eine weiße Araberin, eine Zigeunerin, eine Russin gar, obwohl man doch eine Deutsche ist. Und plötzlich ist man wieder fremd und allein, und das schmucke Städtchen ist nicht mehr schmuck.
Auf dem Weg zur Arbeit stellt man fest, dass
Weitere Kostenlose Bücher