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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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an ihnen gestillt hatte. »Kompensation von Ohnmachtsgefühlen. Die Starre, das Gefühl von Gefangenschaft laden zu Maßlosigkeit ein«, sagte Eva. Niemand wusste so viel über ihn. Was wusste er über sie?
    In den Dünen von Kühlungsborn weinte sie und sagte, es sei vor Glück. Wenn sie jetzt sterbe, dann wäre es nicht schlimm, sagte sie, denn nun hätte sie ja geliebt. Das könne nicht sein, sagte er, er sei doch nicht der erste Mann, den sie liebe. Doch, sagte sie.
    Sie tranken Küstennebel und aßen Räucherfisch. »Diese Villa dort würde mir gut stehen«, sagte er, als sie zurück zum Zeltplatz gingen. – »Ach, dieser kleine Größenwahn macht dich so liebenswert«, sagte sie. – »Wenn du schon so was sagst, dann lass wenigstens das ›klein‹ weg«, sagte er und dachte: oder das »liebenswert«.
    Nach einem einsamen Strandspaziergang traf er sie in Gedanken versunken an der Mole. Unbeobachtet starrte sie in die Wellen, mit umwölkter Stirn. »Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, meinen Arm und Geleit ihr anzutragen?«, sprach er sie von der Seite an. Sie erschrak und sah ihm völlig entgeistert entgegen. Lange sah sie ihm so entgegen. Dann holte sie ihr Lächeln hervor, und ihre Stirn straffte sich. »Ich lasse mich ungern von Fremden anquatschen«, sagte sie.
    Nach zwei Tagen im Zelt schmerzte ihr Allerwertester, und mit viel Glück fanden sie ein Gästezimmer in einem umgebauten Schweinekoben. »Würde es dich kränken, wenn ich dieses Stück Cervelatwurst äße?«, fragte sie am Frühstückstisch mit tödlichem Augenaufschlag. Ihm blieb nichts anders übrig, als »I wo« zu sagen. Danach schminkte sie sich »für den Strand«. Mit einer Nadel sortierte sie ihre Wimpern. Sie wand ihre Haare zu einem Nest und steckte einen Bleistift hindurch.
    Im Strandkorb las sie in einem blauen Buch mit dem Titel »Die Theorie des Romans«. Irgendwann zog sie den Bleistift aus dem Haar und unterstrich einige Sätze. Danach behielt sie den Stift im Mund. Oft schüttelte sie den Kopf. Ein paar Jungmänner hatten sie erspäht und kamen, Frisbee spielend, immer näher. Einer warf ihr die Scheibe vor die rotglänzenden Zehen, während die anderen die Luft anhielten. Vor Stolz machte sie einen ganz langen Hals.
    Am Abend rochen ihre Haare nach Sonne, Tang, Zigaretten, Hering und Sonnencreme. Ihre Haare, tatsächlich lang wie der Sonnenuntergang, hatten den Tag aufgezeichnet.
    »Frau Meyenburg«, sagte er während ihres letzten Frühstücks mit vollem Mund, »willst du mal einen anderen Nachnamen ausprobieren?« – »Welchen denn?« – »Na, den meinen.« – »Aha«, sagte sie und: »Ja.«
    Das Gedächtnis, sagt Montaigne, Platon zitierend, ist eine große und mächtige Gottheit. Doch die wenigsten wissen, was sie will, sagte Frank, sich selbst zitierend.
    Und in Berlin waren sie noch nicht.
    ★
    Das Gitter ist oben, der Eingang offen. Der Polizist aus dem Glashaus hat sich zu dem anderen gestellt, sie sind das Gitter. Zur vollen Stunde sind weitere Männer aufgetaucht, gescheitelte Männer in beigem Zivil mit Handgelenktaschen. Wie die Bordsteinschwalben schlendern sie nun hin und her und sehen jedem Passanten ins Gesicht. Zum Beispiel dem großen Dünnen mit schwarzem Haar. Du beobachtest ihn und sie, während du dich im Hauseingang der Nummer 131 B wie ein Schüler nach dem Klingelstreich versteckst. Du hast selber eine Handgelenktasche dabei, die prall in deiner Armbeuge liegt. Darin befinden sich die ungültigen Beweise deiner Existenz: deine Geburtsurkunde, der PM  12, deine Fahrerlaubnis, zu der sie drüben Führerschein sagen, dein Diplom, dein Lebenslauf zwischen Kriegsende und Kaltem Krieg, dein Familienbuch mit den Heirats- und Sterbeurkunden, eine Postkarte, die das Sandmännchen als Kosmonauten zeigt, der rückseitige Text will dir nicht einfallen, die Abschriften der Eingaben und Briefe, die du im Laufe der Jahre verfasst hast. All diese Dokumente hast du zusammengesucht und eingepackt, bevor du voll guter Hoffnung nach Berlin fuhrst, um hier ansässig zu werden mit deiner Frau und deinen Kindern, auch denen, die noch geboren werden sollten. Als hättest du es gewusst, aber du hast es nicht gewusst. Du weißt es erst seit gestern Nacht, und jetzt willst du weit weg. Während du um die Ecke schielst, springen die Augen des großen Dünnen vom Eingang zu den Wächtern und zurück. Er trägt einen grünen Bundeswehrparka, dem Fähnchen auf dem Oberarm fehlt das Emblem. Er ist in deinem Alter und

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