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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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Ziegelschatten der Synagoge an einer hohen Wand. Das Schild am Zaun erinnert daran, dass das Haus daneben von Bürgern des WBA  2   Berlin-Mitte im VMI geschaffen wurde, was auch immer das heißen mag. Du gehst hier durch die deutsche Geschichte, aber eigentlich geht die deutsche Geschichte durch dich. In der Linienstraße stehen eine gusseiserne Pumpe und ein Wartburg ohne Räder. Die Erker ragen über deinen Kopf, du schreitest die Parade der Gaslaternen ab, über die Tucholskystraße hinweg, wo es eine prächtige Altbauwohnung gibt, in der sich gut leben ließe. Du könntest noch ein paar Haken schlagen, vielmehr solltest du noch ein paar Haken schlagen, nein, umkehren solltest du. Aber das weiße Haus zieht dich westwärts, als wäre es ein Magnet und du ein Eisenspan. Wir alle sind doch bloß Späne, manchmal werden wir angezogen, manchmal abgestoßen. Selten zupft uns einer am Ärmel und drängt uns in eine Kaschemme, um uns eine Geschichte zu erzählen und die Zeit anzuhalten, doch viel zu oft streben wir aus dem Kraftfeld einer Liebe. Und immer, wenn dich eine Liebe abgestoßen hat, zog dich eine andere an, denkst du. Alle reinen Gefühle, denkst du, ergeben doch nur ein Salzfässchen voll Glück, so auch die Halsüberkopfliebe. Es ist ja sogar wissenschaftlich erwiesen, dass die Halsüberkopfliebe nur ein paar Monate währt und wenige Körnchen anhäuft, bevor sie der Schutzundgewohnheitsliebe Platz macht, denkst du und gehst einer Krankenschwester hinterher, deren Handschuhe, Schal und Mütze bunt sind. Bunt steigt die Krankenschwester am Oranienburger Tor in den dreckstarrenden Bus, der U-Bahnhof ist stillgelegt. Du solltest noch mal anders oder genauer nachdenken. Über dich und sie, deine schöne Frau. Doch die Versatzstücke deines Denkens halten schlecht zusammen. Alle Sätze reißen, und durch den Mund atmest du sie aus, ins kahle Geäst der Bäume, wo sie lose im Ostwind schaukeln, im Kohlenmief. Die Sätze, die mit Du, und jene, die mit Ich beginnen. Zerrissen sind die Sätze, diese Stadt, diese Zeit. Da die Sätze zerrissen und veratmet sind, ist auf einmal viel Platz in deinem Schädel. Platz für ein kurzes und schweres Wort. Dieses Wort macht sich breit in deiner Kopfküche, sortiert seine Tinkturen ins Kopfbad und stellt seine sieben Paar Schuhe in den dunklen Flur. Im Hinterstübchen lümmelt es auf dem Kanapee und klaut in der Waschküche deines Kellerbewusstseins Dessous von der Leine.
    ★
    Im Sommer war alles ganz einfach. Die Kinder spielten Tischtennis und Flaschendrehen in ihren Ferienlagern, und Frank Friedrich und Eva Meyenburg konnten ihre Halsüberkopfliebe in vollen Zügen genießen.
    Um Berlin schlugen sie aber immer einen großen Bogen. Sie fuhren nach Potsdam und glitten in großen Filzpantoffeln über die preußischen Intarsien. In einem Kahn ruderten sie auf den Stechlinsee, vielmehr ruderte er, und sie sagte »backbord« oder »steuerbord«, doch was davon ist rechts und von wem aus gesehen? Starr stand ein Hecht im Wasser.
    Das Schloss Rheinsberg war nicht zu besichtigen, da dort der Diabetes mellitus kuriert wurde. Verbotsschilder und Zäune hielten Kunstsinnige und Romantiker vom Musenhof des Kronprinzen Friedrich fern. Wo er dereinst Flöte gespielt und wo sein Bruder, der große General und Mann der Schrift, zu den rauschendsten Bällen geladen, wo Claire und Wölfchen sehr ausgelassen verliebt gewesen waren, da campierten nun die Zuckerkranken aus dem ganzen Land. Die Innenräume waren von Paravents zerteilt, in den Ballsälen standen Eisenbetten und Tauchbecken, und aus den mit Seide bespannten Wänden wuchsen grüne Waschbecken mit Plastehähnen und Plastesiphons, so erzählte man es ihnen gegenüber im Café Deutsches Haus. In den Schlosspark jedoch drangen sie ein, beäugt von einer dicken Frau, die einem dünnen Mann Schatten spendete.
    Auf der Portalplatte von Prinz Heinrichs Grab stand in französischer Sprache: »Wanderer! Erinnere dich, dass Vollkommenheit nicht auf Erden ist. Wenn ich auch nicht der beste der Menschen habe sein können, wenigstens gehöre ich nicht zu der Zahl der Schlechten.« Eva übersetzte es flüssig.
    In Hoppegarten besuchten sie die Galopprennbahn und hatten Glück in der Liebe: Bei einem Jagdrennen setzten sie einen blauen Karl Marx auf ein Pferd namens Nofretete, das ihnen im Führring mit seinem sehnigen Wuchs und seiner tänzelnden Unrast sehr bedeutend erschienen war. Und tatsächlich schob sich das Tier vom Start weg an die

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