Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Spitze des Feldes. Am Torhausbogen jedoch beschrieb der Parcours eine Diagonale. Alle Pferde nahmen den richtigen Kurs, bis auf Nofretete. »Was macht denn dieses ägyptische Biest?«, rief Eva entsetzt und lief zur Tribüne, um das ägyptische Biest besser sehen zu können. »Dreh um, du Scheißkuh!«, schrie sie von dort, und alle staunten, dass diese Lady wie eine Seeräuberin fluchte.
Franks Nachbar, ein kleiner Mann mit Schiebermütze, sagte durch den Mundwinkel: »Nomen est omen. Dit rechte Ooge von dem äjyptischen Biest is blind.« – »Frau Meyenburg«, rief Frank, »es ist doch nur Geld. Komm wieder neben mich!« – »Dit heeßt neben mir «, maulte der kleine Mann. »Wir sind hier in Berlin.« Doch in Berlin waren sie eben noch nicht.
In den ersten Wochen fragte er sich, ob das immer so weitergehen würde. Ob sie weiterhin den richtigen Takt, das richtige Maß finden würden, ob sie auch morgen und übermorgen die Pausen zwischen den Worten richtig abmessen würden und die Länge ihrer Schritte, ihrer Umarmungen, ihrer Blicke, ob ihre Erregungen stimmig sein würden und ihre Erlösungen, ob das alles auch künftig richtig sei.
Es blieb richtig. Sie liebten sich auf einem Felsen in der Sächsischen Schweiz, und es machte nichts, dass es nur die Sächsische war. Es machte ihm auch nur im ersten Moment etwas aus, dass man sie an der tschechischen Grenze abwies. Stattdessen würden sie eben eine Woche an der See verbringen.
So steuerten sie über eine Landstraße, die die Augustwärme gespeichert hatte, weiter gen Norden. Der Himmel wurde tintig, und eine brennende Sonne rollte über den Horizont. Auf dem Rücksitz des Škodas ging dem RFT -Rekorder der Saft aus, und Janis Joplin sang trunken und tief: »Freedom’s just another word for nothing left to lose.« Eva sprach von einem Schiffshebewerk ganz in der Nähe, er von Thor Heyerdahl und fliegenden Fischen. Da schossen aus den schwarzen Wäldern back- und steuerbords unzählige kleine Schemen hervor, die wie Ascheflocken im Sonnenfeuer tanzten. »Schau dir das an«, sagte Eva. – »Was ist das?«, fragte er. »Vögel?« – »Nein, Fledermäuse.« – Über das Lenkrad geduckt, betrachtete er das Schauspiel. »Was machen die da?« – »Dreimal darfst du raten.« – »Na ja«, sagte er, »die Straße hat sich aufgeheizt, die Thermik ist ideal. Ich schätze mal, sie lassen es sich gut gehen. Sie spielen.« – »So ein Blech«, sagte sie und stemmte ihre nackten Füße mit den lackierten Zehennägeln gegen die Armatur. »Gib mir eine Zigarette.« – Er fingerte eine Club aus der Schachtel, steckte sie an und hielt ihr die brennende Zigarette hin. Sie tat einen tiefen Zug und sagte: »Sie fangen ihr Abendbrot.«
Sie liebten sich in einem See, und nur ein Haubentaucher beobachtete sie dabei. Sie lagen auf märkischem Sand und sahen dieselben Sternschnuppen. »Wann warst du am glücklichsten?«, fragte Eva. – »Als Jakob zur Welt kam«, sagte er wahrheitsgemäß. »Und du?« – »Jetzt.« – Sie schwiegen ausgiebig, dann fragte er: »Wie war Leonore als Kind?« – »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Ich habe es vergessen.« – »Wie warst du als Kind?«, fragte er weiter. – »Auch das habe ich vergessen«, sagte sie, und nach einer Pause: »Wie warst du als Kind?«
Plötzlich konnte er sich erinnern und erzählte ihr alles. Wie er aufgewachsen war, Kartoffeln und Quark, die hohen und die tiefen Töne, der Beginn einer Reise, dass ihn sein Stiefvater vermöbelt hatte, dass seine Mutter distelschön und stechend gewesen war, wie er seine erste Frau kennengelernt hatte, Paella und Wein, und wie sie gestorben war, ich gebe dich frei, wie ihm das Leben danach aus den Händen geglitten war und er es wieder zu fassen versucht hatte, aber es blieb ein Stück Seife mit Eisenknopf, sein Leben. Er hielt nichts zurück oder nur ganz wenig. Er erzählte ihr von seinem Sohn, den er mit Sorge, Verwunderung und Liebe aufwachsen sah. Er erzählte ihr von seinem ersten Mal mit einer Renate. Renate hatte gesagt, er solle aufpassen, und er hatte gesagt, sie solle ihm ein Zeichen geben, wenn er ihr wehtue. Renate aber hatte etwas anderes gemeint, und er hatte sich seiner Unerfahrenheit so sehr geschämt, dass er sie nicht hatte wiedersehen wollen. Schlampig fand er sie dann auch. Er traute sich nicht, nach Evas erstem Mal zu fragen.
Mit ihr kam die Erinnerung zurück. Er erzählte ihr sogar vom Saufen und von den Frauen, dass er seine Wut
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