Das halbe Haus: Roman (German Edition)
jetzt gar nicht mehr schlendert, sondern immer langsamer und zögerlicher einen Fuß vor den anderen setzt. Vom veterinärmedizinischen Institut dringen spitze Töne herüber, Quieken und Kreischen. – »Bürger, weisen Sie sich aus«, sagt der Mann mit Handgelenktasche, der jetzt vor euch steht und zu euch hochschaut. – »Listen, the pigs«, sagst du zu deinem Franzosen und drehst dich zum Institutsgebäude um, im Putz das ganze kyrillische Alphabet der Kalaschnikows. – »Die Ausweispapiere!«, sagt der Mann. – »We are strangers«, sagst du und kannst es gerade noch vermeiden, »in the night« hinzuzufügen. »I was born in Chicago«, erklärst du, »in nineteen forty-six.« Danke, Mister Butterfield. Zu deiner Überraschung sagt der Franzose »Bonjour Paris« und zieht dich mit sich. – »Halt!«, ruft der Mann euch nach, doch ihr geht einfach weiter, darauf wartend, dass euch seine Rufe wie Schneebälle ins Kreuz treffen. Aber der Mann bleibt still, und auch die Grünen, die den Eingang bewachen, sprechen euch nicht an. Auf einmal bist du mit einem Fuß im Westen und mit dem anderen im Osten, dann stehst du mit beiden Beinen im Alkoven. Der Franzose allerdings rutscht auf der zweiten Stufe aus. Er ruft: »Scheiße!« Ein Grüner hilft ihm auf und hält ihn fest. Du setzt einen Fuß zurück in den Osten und ziehst den falschen Franzosen zu dir. »Thank you«, sagst du zu dem Polizisten, »thank you so very much.« Die Tür mit dem Aluminiumrahmen öffnet sich nach außen, und trockene, warme Luft schlägt euch entgegen. Ein Mann mit Schnauzbart und blauem Pullover sieht euch und den grünen Türsteher fragend an. – »Ich heiße Rüdiger Pfeiffer«, keucht dein neuer Freund, »und ich beantrage politisches Asyl.«
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Endlich: Nach acht Stunden Fahrt, zwei gottlosen Buletten auf der Raststätte und einem Anschubmanöver nach Art des Sisyphos treffen Frank und Jakob Friedrich in der Hauptstadt der DDR ein. Auf paradebreiten Straßen fahren sie zum Zentrum, Lastkähne auf der Spree, Gasometer, Schornsteine, Bunker und Wassertürme zwischen Industriebrachen und Mietskasernen. Die Treptower Platanen werfen ihre Rinde ab, das Riesenrad im Plänterwald blinkt. Sie passieren Schwimmhallen mit gefalteten Dächern, die grüßenden Zwillingstürme am Frankfurter Tor, das Kosmos-Kino und das International. An dessen Fassade wirbt ein großes düsteres Bild für den Film »Die Mahnung«. Unter fliehender Schrift hockt Georgi Dimitroff und starrt finster auf das Restaurant Moskau.
Vor die Neubauten hinterm Alex sind Banner gespannt: »Frieden ist nicht Sein, sondern Tun.« Die gefesselten Tannenbäume auf den Balkonen müssen noch einen Monat auf ihre Befreiung warten. Die Fassaden ähneln Adventskalendern, etliche Türchen mit gelbem Licht sind schon geöffnet, auch einzelne violette. Jenseits der Mollstraße stehen nur Häuser aus dem vorigen Jahrhundert. Vor einer Ampel muss Frank scharf bremsen, weil junge Leute mit schwarzen Haaren und Jacken über Rot latschen. Die Laternen glühen auf, und von der Tafel einer Eckkneipe prostet ihnen der Schultheiß-Mann zu. Der Škoda holpert über das Kopfsteinpflaster. Sie parken vor einem Fleisch- und Wurstwarengeschäft. Im Schaufenster hängt ein Plakat: »7. Oktober 1982. Geschichte entsteht an allen Tagen des Jahres.« Auf das Fensterglas hat der Meister mit weißer Farbe ein einziges Wort gepinselt: »Gehirn.«
Jenny Poseners Haus in der Kollwitzstraße erkennen sie am Barkas, der grau in der Dämmerung parkt. Das Haus ist eingerüstet. »Achtung! Freistrahl- und Farbspritzarbeiten.« In Frank Friedrichs Stadtführer aus dem VEB Tourist Verlag kann man lesen: »Im Prenzlauer Berg hat der Kapitalismus vielen alten Wohnbestand und damit ein schweres Erbe hinterlassen. Aus dem Staatshaushalt werden Jahr für Jahr erhebliche Summen aufgewandt, um die Altbausubstanz zu erhalten und zu modernisieren.«
Trotzdem blättert im Treppenhaus die Ölfarbe von der Wand. Balken stützen die Einfahrt. Auf einem Schild steht: »Achten Sie auf Ihren Kopf.« Ein guter Gedanke. Frank und Jakob steigen bis unters Dach und geraten an eine weiße Tür, die trotz Papierrolle von oben bis unten vollgeschrieben ist: »Schrat war hier mitm Auto, Fr. ca. 13. 30. Und nu?« – »Bin jetzt in Bienes Wohnung, Kuß, Philippa.« – »Axel hat lang genug gewartet. Viel Erfolg auch im persönlichen Leben!«
Frank klopft und denkt, dass jener Axel recht hat: Immerzu wartet man
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