Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
Vom Netzwerk:
kommt die Hannoversche rauf bis zur Kreuzung, wirft Blicke über beide Schultern, überquert die Straße, geht an der kleinen Verkehrsinsel mit der Würfeluhr vorbei und dreht auf deiner Seite nach Westen ab. Seine Augen springen in alle Himmelsrichtungen. Er ist langsamer als die Studenten, Wissenschaftler und Arbeiter, die etwas vorhaben, aber schneller als die Männer mit den Handgelenktaschen, die nichts vorhaben. Mit langen Schritten folgst du ihm. Als eure Schultern sich berühren, sagst du: »Lass dir nichts anmerken, wir haben den gleichen Plan. Geh weiter, und guck nach vorn.« Der große Dünne stößt eine Atemwolke aus und geht mit dir. In einem Hauseingang gegenüber vom veterinärmedizinischen Institut, dessen zerschossene, graubraune Fassade mit der Straße knickt, bleibt ihr stehen und seht euch an. »Das ist viel zu auffällig, wie du hier rumschleichst«, sagst du. »Die haben schon Lunte gerochen.« – »Ja, wie soll man es denn anstellen?«, sagt er. – »Zuerst mal Nerven behalten«, sagst du und grinst. Er kommt aus deiner Gegend, und es tut gut, dass es einen gibt, der mehr Schiss hat als du. – »Ja, und dann? Wie schafft man es, dass sie einen nicht vorher abfangen?« Ein grün-weißer Shiguli fährt langsam die Straße hinunter. Du trittst den schweren Türflügel auf, und ihr landet im Zwielicht eines Durchgangs. Zwei eiserne Gleiskanäle liegen im Boden, Stuckgirlanden hängen von der Decke, aus der Wand brechen die Gesichter pausbäckiger Engel mit zerschlagenen Augen, Nasen, Mündern, rechts nimmt eine gedrechselte Treppe ihren Anfang. »Ich heiße Frank«, sagst du, »vor sieben Jahren habe ich meinen ersten Antrag gestellt.« – »Rüdiger«, sagt der andere. »Ich habe noch gar keinen gestellt, aber ich hab die Faxen dicke. Wir wollten uns selbständig machen, meine Frau und ich, wir sind Uhrmacher. Seit zwei Jahren wird es abgelehnt.« – »Jetzt weiß ich das alles über dich«, sagst du, »und könnte einer von denen sein.« Sein Kopf ruckt, irgendwo im Halbdunkel gurrt eine Taube. »Woher kommst du?«, fragst du den großen Dünnen, der auch einer von denen sein könnte. Er nennt den Namen deiner Stadt, und du reichst ihm die Hand, weil so nervös keiner von denen ist. Er trägt drei Armbanduhren übereinander. »Pass auf«, sagst du, »wir müssen klüger sein als die. Sie werden alles daransetzen, dass wir nicht reinkommen. Deshalb sind wir Ausländer. Sprichst du eine Fremdsprache?« – »Russisch, aber nicht sehr gut.« – »Das nützt uns nichts. Wir müssen Westler sein, verstehst du, Amis oder Briten.« – »Sprichst du denn Englisch?« – »Ordentlich«, bluffst du. – »Dann hast du es gut«, sagt er. »Ich kann nur schlecht Russisch und noch schlechter Französisch.« – »Sag mal was auf Französisch«, sagst du. – »Merde«, sagt er. – »Das sollte reichen«, sagst du. »Wir sind Diplomaten von den Alliierten.« – »Glaubst du wirklich, dass wir wie Diplomaten wirken?« – »Woher sollen die wissen, wie sich echte Diplomaten verhalten?«, sagst du. – »So ungebildet sind sie auch nicht«, sagt er. – »Sie sind einseitig gebildet«, sagst du. »Das ist unsere Chance.« – »Ich habe eigentlich«, sagt der Große, »nichts zu verlieren.« – »Ich«, erwiderst du, »eigentlich auch nicht.« Euer »eigentlich« sollte man euch um die Ohren hauen, denkst du und atmest den Gedanken aus. – »Also los«, sagt er. »Allez der Kosmonauten.« – »Moment noch«, sagst du. »Lass uns die Jacken tauschen, dich haben sie schon im Visier.« Bevor er seinen Parka auszieht, holt er einen DIN -A5-Umschlag und eine Zahnbürste aus den Tiefen seiner Taschen. Auch am linken Handgelenk trägt er drei Armbanduhren. Weil du auf dem Schlauch stehst, fragst du: »Wofür brauchst du die?« Im nächsten Augenblick kommst du von selbst drauf: Wenn er einmal drinnen ist, wird er nicht mehr rausgehen. Es sei denn, in den Westen.
    ★
    Nach den Sommerferien wurde es schwierig. Frank Friedrich war an seine Stadt gebunden, Eva Meyenburg an ihre. Jeden Freitag oder Samstag reiste sie zu ihm, mit ihrer Tochter oder allein, und am Sonntagabend oder Montag früh fuhr sie zurück. Nie besuchte er sie in Berlin. Immer am Mittwoch fand er eine Postkarte in seinem Briefkasten: »Bin durch Dein Land gefahren, habe Deine Wolken gesehen, Deinen Mond, Deine Nachtlichter. Ich führe mir immer nur Dich vor Augen und das von Dir Besessene.« Wenn sie es sagte, dann

Weitere Kostenlose Bücher