Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Handvoll Erde auf den Sarg und manchmal eine Nelke oder Sonnenblume, je nach Jahreszeit, bevor die Friedhofsgärtner das Loch wieder zuschippen. Am Anfang wölbt sich ein Erdhügel über dem Grab, doch obwohl die Erde gar nicht in das Loch passen kann, glättet sich im Lauf der Zeit der Boden, als sei nichts darunter. Für eine Urne muss nur ein kleines Loch gegraben werden, und darüber wölbt sich fast gar nichts, kaum die Erde noch der Himmel. So geht Begraben bei Menschen, bei Katzen ist alles viel einfacher. Viermal im Jahr gehen sie zum Grab. Im Frühjahr, um das Grab herzurichten und andächtig davor herumzustehen, im Sommer, um den Stein zu waschen und andächtig davor herumzustehen, im Herbst, um das Grab mit Tannengrün abzudecken und andächtig davor herumzustehen, und zu Weihnachten, um eine Kerze anzuzünden und andächtig davor herumzustehen. Man kann andächtig vor einem Grab stehen, aber Asche bleibt Asche. Es gibt überhaupt keine Technik, mit deren Hilfe man ein lebendiges Bild von der Mutter herstellen kann, Aquarell taugt nicht, Linolschnitt auch nicht. Manchmal wirft die Wolke einen Schatten, oder der Wind hebt den Mut, doch im Stammbaum sitzen Nesträuber. Im vergangenen Jahr war er einmal außer der Reihe am Grab gewesen, am Tag der Hochzeit. Da stahl er sich mit Leo von der Feier und ging mit ihr quer durch die Stadt zum großen Friedhof. Er führte sie durch das Wegenetz, das den Adern eines Lindenblatts entspricht. Zum ersten Mal erzählte er jemandem von den vier Jahreszeiten des Andächtigseins. Er zeigte ihr das Krematorium in der Mitte des Lindenblatts, den Teich, den Urnengarten, die Birke mit der Warze und die Toten des Luftkriegs. Ein Kampfflieger ruht unter einem Propeller, ein Kapitän unter einem Anker, ein Infanterist unter einem Stahlhelm. Er zeigte ihr die schönsten Engel, die kürzesten und die längsten Leben und die altmodischsten Namen. Da erst wurde ihm klar, dass er auf dem Friedhof zu Hause war. Am Grab spottete er über das nutzlose Andächtigsein und gab mit der verbrannten Mutter an. Leo war still. Dann erzählte sie, dass sie mal einen Bruder hatte. Sie wisse gar nicht, ob der auch verbrannt worden sei, verbrennen klinge so schlimm. Aus der Ferne näherte sich ein richtiges Brautpaar. Leo zog ihn hinter den Grabstein eines Privatiers, und aus ihrem Versteck beobachteten sie, wie Vater und Eva sich vor der niedrigen Erikahecke aufstellten, die Hände vorm Schoß, als fange gleich die dritte Trauung des Tages an. Dann raffte Eva ihr Kleid, stieg über die Hecke und legte ihren Brautstrauß vor den Granit mit dem goldenen Namen und dem goldenen Satz, kitschiger geht’s nicht. Nachdem sie gegangen waren, griff sich Jakob den Strauß und schmiss ihn auf den großen Kompost. Die Blumen faulten, an den Rückseiten der Birken wuchs das Moos in die Höhe, Laubfeuer brannten, in den Wasserbecken trieben Gesichter: der Engel der Güte, der Engel der Trauer, der Engel der Vergebung. Nur Allegorien, so hieß es, nur Kitsch. Aus dem Hahn an der Weggabelung fiel der Vierzig-Sekunden-Tropfen, und er fällt.
»Ja-kob!«
Der Fang war gut. Die Angler tragen einen vollen Korb und einen gefüllten Kissenbezug auf die Straße. Sie stellen den Korb neben den Lada und legen den Kissenbezug obenauf. Eva muss eine Unterschrift leisten, Gundula Meister und Elvira Voss auch. Zum Schluss unterschreiben der Anführer und Oberleutnant Dobysch. Dobysch gibt Jasper seinen Ausweis zurück. Jakob sucht Leos Blick. Noch immer hat sie Schiss. Das hier ist Krieg, will er ihr zu verstehen geben. Das passiert nicht dir, das passiert jemand anders, einer gewissen Leonore Devrient, die da neuerdings auch auf dem Briefkasten steht. Du aber bist Leo und guckst ihr nur zu, wie sie schissig guckt. So spricht er ihr still zu, bevor ihn der Schlag trifft: Aus dem Fangkorb hängt eine rot-gelbe Kordel. Das darf nicht sein! Nachdem er aus dem Zimmer gerannt ist, hat der Typ also nicht nur seinen Stempelkasten, sondern auch sein Fotoalbum beschlagnahmt. Aber das geht nicht! Das Album ist seine wichtigste Sache, die darf man ihm nicht wegnehmen. In dem Album sind die Bilder seiner Familie versammelt, die Großmutter zweimal als Braut, der Vater als Schlüsselkind, Oma Katja mit Zahnlücke und Taschentuch im Rockbund, Rosa und Albert mit Karakulmütze, seine Mutter im Brokatkleid, als zornige Tennisspielerin, mit Kopftuch auf dem Sozius einer MZ , als junge Mutter mit einem glucksenden, speckigen Kind, ein Jahr,
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