Das halbe Haus: Roman (German Edition)
bevor sie die Leiter nahm. Das geht gar nicht. Auf einmal ist da wieder ein feines Grollen, ein leises Knattern. Alle heben die Köpfe. Wie soll er den Vater jetzt noch warnen? Doch es ist ein großes goldenes Auto, das vorfährt. Ein Mann in den besten Jahren lässt das Fenster herunter. Er klappt seinen Schnauzer hoch und zeigt seine Zähne. Mit Schaumstimme sagt er: ’n Abend allerseits. Ich möchte die Damen auf eine kleine Spritztour einladen. Er schaut Eva und Leo an, im Beifahrersitz lümmelt Falk, das Autoradio spielt ABBA . Mutter und Tochter stehen mit verschränkten Armen auf dem Trottoir. Niemand sagt etwas. Die Angler starren den Mann an. Der Anführer zückt Stift und Block und notiert das Kennzeichen. Während alle starren, zieht Jakob sein Album unter dem Kissenbezug, der als Schuhsack dient, hervor. Nur Leo bemerkt, wie er es in seinen Hosenbund schiebt, unter die blaue Trainingsjacke von der KJS . Bloß eine kleine Runde drehen, sagt Falks Messeonkel. Niemand antwortet. ABBA singt. Der Messeonkel sagt: Schade. Er tippt sich an die Schläfe und wünscht allerseits ’n angenehmen Abend. Der goldene Wagen fährt ab, von null auf hundert in acht Sekunden. Die Angler salutieren, laden ihren Fang ein und bringen ihn zum Ausnehmen. Gundula Meister und Elvira Voss gehen weg. Jasper, Eva, Leo und Jakob umarmen sich. Sie stehen im Kreis, halten sich einen Moment lang fest, kurz berühren sich ihre Köpfe, Stirn an Stirn stehen sie. Komm, komm, sagt Jasper. Sie sollen ihn anrufen, jederzeit, sagt er und tritt die Jawa an. Leo zieht ihre Strickjacke um die Schultern und kehrt zurück ins Haus. Jetzt stehen nur noch Eva, Jakob und die von allen vergessene Kerstin vor dem Zaun. – Hau einfach ab, sagt Jakob zu ihr, und still wendet sie sich nach Süden. Bevor Eva hineingeht, sagt sie: Jetzt bist du der Mann im Haus.
»Ja-kob!«
Und nun blühen schon die Forsythien. Bald müssen sie zum Grab gehen, es ist mal wieder so weit. Jakob wird den Vater daran erinnern, wenn er nun endlich mal nach Hause kommt. Es gibt viel zu erzählen, jeder Satz eine Geschichte. Er wird dem Vater seine Fehler gestehen und von seinem Triumph berichten. Allein wartet er auf dem Trottoir, das Album im Rücken. Er steht auf dem Bürgersteig, vor dem halben Haus, in dem er schon immer lebt. Die anderen sind fort. Er hat das Brummen der Fahrzeuge noch im Ohr und das Stundenläuten der Glocke. Im Süden graben die Bagger im Meer der Urfische. Wieder häutet sich ein Jahr und das alte versteinert. Morgens ist die Stadt immer Graustadt, zur großen Pause aber lässt sich ein Seehimmel bestaunen, gewaschen und licht, durchzogen nur von hoch gespannten Leitungen. Mittags auf dem Schulweg begleiten ihn Tellergeklapper und Bratenduft, nachmittags hört er Feierabendmusik, Autos, schließende Türen. Heimkehrgeräusche. Er wartet. Die Amseln besprechen seine Lage: Er ist ein Junge, der allein an einem Zaun steht und wartet. Womöglich ist er schon ein Mann, immerhin ist er der einzige Kerl im Haus, er hat ML und wird gesiezt. Schämen müsste er sich eigentlich nicht, und die Fehler hat nicht er gemacht, auch wenn das Flugblatt in seinem Bauch aus seinem Stempelkasten stammt. Der Kater streicht um seine Beine. Vor der Nacht kehren die Zugvögel zurück. Er wird weiter warten, mit der kleinen Geduld des Tages und der großen Geduld der Jahre. Es kann hier nicht so schlecht sein, wenn die Zugvögel zurückkehren.
»Ja-kob!«
V
DER MANN IM HAUS
März 1983 – Januar 1984
Von allen Seiten her kam ich in Deine Schuld.
18. Habseligkeiten
Leipzig, den 13.3.1983
9.30 – 17.30
Zeitraum der Durchsuchung
Durchsuchungs- und Beschlagnahmeprotokoll
Auf Anordnung des Staatsanwaltes des Bezirks Leipzig
Wurden die Wohn- oder sonstige Räume des /der
F r i e d r i c h
Frank
17.6.1946
Name
Vorname
geb. am
7030 Leipzig
Regenstr.
27
Ort
Straße
Nr.
durchsucht, um Gegenstände und Unterlagen, die als Beweismittel von Bedeutung sein könnten oder nach den Strafgesetzen der Einziehung unterliegen, zu beschlagnahmen oder sicherzustellen.
Der Staatsanwalt war – nicht – zugegen.
Folgende unbeteiligte Personen wurden hinzugezogen:
1. V o s s,
Elvira
geb. am 2.4.41
LVB in Leipzig
Name
Vorname
Geburtstag
Arbeitsstelle
Im Krähenwinkel 12, 7030 Leipzig
Wohnanschrift
2. M e i s t e r,
Gundula
geb. am 8.9.47
Hausfrau
Name
Vorname
Geburtstag
Arbeitsstelle
Regenstr. 26, 7030
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