Das halbe Haus: Roman (German Edition)
für ein Kunde, was für ein Blutsbruder, wenn du das nicht kapierst? Aber wie immer sagt er nichts, und Falk, dessen Sommersprossen noch nicht zurückgefunden haben, winkt einfach nur ab und sagt: Verfickte Kacke. Er senkt das Jo-Jo, ruckt an und lässt Jakob stehen. Sie verlieren sich aus den Augen.
»Ja-kob!«
Plötzlich hört er ein feines Grollen, ein leises Knattern, und sein Herz schlägt schneller. Ja, ja! Das ist Vaters Wagen! Er geht auf das Geräusch zu und tritt auf die Straße. Er wird den Vater durchwinken, sie können sich dann hinterm Schuttberg treffen oder beim Bauern, dort will er ihm alles erzählen. Er späht die Straße hinunter, erst mal sieht er ein Motorrad, ein weinrotes Motorrad mit Beiwagen, es kommt näher, der Fahrer steuert das Motorrad über den Bordstein, das Motorrad ist eine Jawa und der Fahrer Jasper. Jasper stellt die Maschine und das irreführende Geräusch ab, er nimmt den Helm vom Kopf und öffnet seine schwere Joppe. Darunter trägt er das T-Shirt mit dem coolen Löwen. Der Löwe hat Turnschuhe an, eine verspiegelte Sonnenbrille auf der Schnauze und hält sich lässig ein gelbes Schild vor den Bauch. Lieber schön in Leipzig als häßlich in Paris!, steht darauf. Jakob erinnert sich, wie stolz Mo war, drei der T-Shirts von einem stadtbekannten Grafiker ergattert zu haben. Jasper und Mo haben sich sofort eines übergezogen, der Vater hat sich geweigert. Komm, komm. – Sind alle im Haus?, fragt Jasper. Er wirft einen Blick auf den Lada und streicht Jakob über den Kopf. Den Helm in der Hand, springt er die Treppe hoch. Die Nachbarn heizen, sie nicht.
»Ja-kob!«
Um die andere Ecke, hinter der der Süden und das Pfarrhaus mit der kleinen Feldsteinkirche liegen, biegt Kerstin, Zopf und Cello auf dem Rücken. Weder beim Jugendgottesdienst noch bei der Christenlehre warst du, sagt sie. Sie ist kein Thälmannpionier, hat nur in Sport und Stabü eine 2, braucht keinen Tintenkiller und singt: Eine feste Burg ist unser Gott. Das, so ihr Vater, der Pfarrer Wenzel, sei die Marseillaise der Lutherzeit gewesen. Am 10. November wird Martin Luther fünfhundert und Jakob Friedrich vierzehn. Jakob weiß noch nicht einmal, ob er überhaupt jemanden einladen will, doch für Luthern ist schon eine Riesenfete in Planung. Am laufenden Band sprechen sie in der Christenlehre über den großen Reformator, der widerrufen sollte, aber nicht konnte, der gesagt hat, die Weltlichen hätten nichts zu melden, die Fürsten seien auch nur Zeitliche, was zähle, sei die Schrift allein, er selbst, Martin Luther, sei niedrig, das Wort Gottes alles. Wir haben uns heute, sagt Kerstin, Lutherthesen für unsere Zeit überlegt. Die wollen wir an unsere Kirchen schlagen. – Aha. – Helme zu Kochtöpfen, zum Beispiel. Panzer zu Mähdreschern. Der Glaube ist stärker als die Angst. Schwerter zu Pflugscharen. – Immer und überall, sagt Jakob, muss man irgendeinen Scheiß bekennen. Zu Luther im Lutherjahr, zu Marx im Marxjahr, zur Pub-er-tät im Jahr der Pub-er-tät. Und immer mit Musik und Wandzeitung. – Warum bist du denn so gereizt?, fragt Kerstin betroffen. – Testosteron, sagt Jakob. Ihm fällt auf, dass ML auch für Martin und Luther stehen könnte.
»Ja-kob!«
Und dann sind da die Feuer. In den Gärten verbrennen sie das feuchte Laub. Rauch steigt in die Lüfte. Im Herbst gibt es auch Laubfeuer. Was abgestorben ist, muss verbrannt werden. Bei Nässe hilft Benzin. Die Mutter wurde auch verbrannt. Als er acht war, fragte er einen Bestatter, wie Verbrennen geht. Verbrennen geht so: Per Knopfdruck wird die Anlage in Betrieb gesetzt. Wenn die Skala achthundert Grad anzeigt, wird der Sarg in den Ofen gefahren und die Hitze auf tausend Grad erhöht. Der Verbrennungsvorgang benötigt bis zu zweieinhalb Stunden, je nach Verstorbenem. Dann zerfallen Sarg und Toter zu Asche. Jeder Leiche wird ein kleiner Schamotteziegel mit Nummer beigegeben, der sich unverbrannt wiederfindet, sodass eine Verwechslung ausgeschlossen ist. So geht Verbrennen, und wie Begraben geht, erzählte ihm ein Friedhofsgärtner: Mit der Spitzhacke wird die harte Erdkruste geöffnet, dann kommt der Spaten zum Einsatz und sticht die erste Schicht ab. Für den lockeren Boden kann eine Schippe benutzt werden, die Wurzelfinger der Bäume und Sträucher werden mit einem Beil abgehackt. An Seilen wird der Sarg hinabgelassen und auf Holzbohlen gesetzt, damit die Seile wieder hinaufgezogen werden können. Die Angehörigen werfen ein paar
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