Das halbe Haus: Roman (German Edition)
die Ankunftserinnerung und das Gedenken an den Frühling, die das Hochgefühl auslösen: Es ist das Abhauen, das dem lyrischen Ich ein wohliges Kribbeln in die Lenden jagt. Es reitet weg und trägt in der einen Satteltasche die Liebe und in der anderen das Geliebtwerden davon. Goethe war und ist scheiße. Ich bin weg und auch scheiße.
Ein nackter Mann hat so gut wie keinen Einfluss auf die Gesellschaft, sagt Twain. Gandhi behauptet das Gegenteil.
Es gibt ja diese Vorstellung vom Erwachsenwerden, auch in der Geschichte. Das Leben als ein Bildungsroman, das sich verbessernde Menschengeschlecht. Ich sage Vorstellung, weil mehr ist es doch nicht, worauf Sie alles gründen. Ja, es gibt Entwicklung, es gibt gute Kräfte, der Mensch lernt, eignet sich Fähigkeiten an, aber dann, von einem bestimmten Punkt an, ist ein Plateau erreicht. Dann dreht alles nur noch, wiederholt sich, Rückfälle sind nicht ausgeschlossen, Kriege. Es gibt sie nicht, die auf ein gutes Ziel zulaufende Geschichte, die sich an Widersprüchen reibende und immer weiter verbessernde Gesellschaft. – Sie wollen doch nicht behaupten, dass wir seit der Sklavenzeit, seit der Feudalgesellschaft keinen Fortschritt gemacht haben. – Haben wir durchaus. Wir haben uns gut entwickelt, haben hinzugelernt. Aber jetzt geht es nicht weiter und vor allem nicht nach Plan. Das moderne Lebensgefühl war schon zur Zeit der Renaissance voll ausgebildet, das Ich. Seitdem hat sich an dieser Front nichts Wesentliches mehr getan. – Das ist doch abenteuerlich und ziemlich dumm. In Oberitalien ging es doch erst los mit der merkantilen Emanzipation einer kleinen Kaufmannsschicht. Dann die frühbürgerliche Revolution in Mitteldeutschland, Müntzer, es folgte die Aufklärung, ein Bürgertum entstand, dann formierte sich das Proletariat, organisierte sich, eine Revolution folgte auf die andere, 1789, 1848, 1917, und jetzt haben wir immerhin schon den Sozialismus auf deutschem Boden. – Und worin besteht die Verbesserung? Die Geschichte geht ihren Weg und ist erst nachträglich lesbar. Marx hat geirrt, als er sagte, sie sei veränderbar. – Aber Sie wollen doch auch Ihre Geschichte verändern, deshalb sitzen Sie doch hier. – Ich möchte nicht die Geschichte drehen, ich verlange nur die Einhaltung der allgemeinen Menschenrechte. Was da formuliert wurde als weltweites Grundgesetz, das ist unser bestmöglicher Entwicklungsstand. Zum ersten Mal wurde das in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung festgeschrieben. Da heißt es, dass alle Menschen gleich sind in dem Sinn, dass der Staat eines jeden Leben, Freiheit und Streben nach Glück sichern soll. Wir müssen nicht darüber hinausdenken. Wir brauchen nicht von der klassenlosen Gesellschaft sprechen, es gibt so etwas nicht. Es genügt, in einer ausdifferenzierten Welt die Grundrechte eines jeden zu sichern, Leben, Freiheit, Glück. – Sie reden völlig unwissenschaftlich. – Nach Ihrer Vorstellung sind Sie die Speerspitze des Proletariats, und ich bin ein renitentes Subjekt, die Speerspitze der Reaktion, die Sie schleifen wollen. Aber das geht nicht. Wenn man nur einer einzelnen legitimen Sache nicht gerecht wird, einem einzigen Freiheitswunsch, dann ist die ganze große Sache Käse, das ist meine Meinung. – Was legitim ist, bestimmen wir. – Eben. Aber Sie müssen diese Grundspannung aushalten, nur dann sind Sie legitim. Sie müssen sich anhören, was die Einzelnen zu sagen haben. – Was meinen Sie, was ich hier gerade tue. – Ja, weil Sie zufällig einen guten Tag erwischt haben. – Stimmt, meine Frau war sehr freundlich zu mir. – Schön für Sie. – Warum nur haben Sie Ihre Frau sitzenlassen? Ich verstehe das nicht, wenn ich mir diese Fotos so anschaue.
Bitte, bitte, holt einen, einer hat es nicht so gemeint kürzlich, bitte. Lasst uns ein bisschen quatschen, bitte. Über den Sozialismus, lasst uns über den Sozialismus quatschen. Ja, einer hat vielleicht nicht alles richtig gemacht, ja doch, es stimmt ja, mit so einem hätte man selbst keinen Spaß. Nicht fallen lassen jetzt, bitte, einer will sich bessern. Holt einen, einer macht auch gleich Meldung, ganz ordnungsgemäß, Strafgefangener Zwohundertzwo-Zwo meldet, in der Zelle zu sein, nein: im Verwahrraum. Ohne Wenn und Aber tritt einer raus, dreht gleich das Gesicht zur Wand, ohne zu schielen, Hände offen auf dem Rücken. Und einer wird nicht aufmucken, einer wird sich alles anhören und versuchen, sich zu bessern. Selbstkritik.
Weitere Kostenlose Bücher