Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Flachland ein? Während du vom Tal der Könige und vom Tal des Todes erzählst, döst Richard auf dem Beifahrersitz. Sobald du innehältst, schreckt er hoch, also redest du und redest, wobei du das Land betrachtest. Bei Wolfen musst du die Lüftung abstellen. Du steuerst den Wagen über die Elbbrücke vor Wittenberg, linker Hand steht ein Häuschen auf dem Damm, dann kommt der braune Turm, der Plaste und Elaste aus Schkopau anpreist, dann taucht die Schlosskirche auf, und rechts wehen die weißen Fähnchen der Schornsteine. Auf der Hutablage liegen eure Bauhelme. Ich liebe die Seenlandschaft, sagt Richard weiter nördlich. Von ihm lernst du, wie man Lärm-, Staub-, Bodenmessungen und früher Feierabend macht. Ihr besucht Hühnerfarmen, Schweinemastanlagen, Textilbetriebe und Kokereien, in denen das Kohlenmonoxid die schönsten Ohnmachtsanfälle verursacht. In einer Talkumfabrik bei Karl-Marx-Stadt arbeiten nur Frauen. Ohne Mundschutz stellen sie Babypuder her, unterm Mikroskop sieht man gleich die langfasrigen Teilchen, die die Lunge zersetzen. So geht das nicht, Genosse Direktor, sagt Richard zum Fabrikdirektor. Der Puderstaub ruiniert die Gesundheit, du musst deine Arbeiterinnen aufklären. – Bitte, Kollege, melde mich nicht, sagt der Direktor. Wie ich höre, wirst du bald Großvater. Deine Tochter, würde ich mal sagen, muss sich nie mehr um Babypuder kümmern. – Lass mal gut sein, Genosse Direktor, sagt Richard. Auf der Heimfahrt sagt er zu dir: Ich stelle mir vor, dass Flämmchen eins von den eingestaubten Mädels ist. In einem Steinbruch bei Pirna arbeiten nur Männer. Im Sägewerk haben sie hundert Dezibel am Ohr. Richard schreit einen der Männer an: Kollege, warum nimmst du keinen Hörschutz? – Huhä?, schreit der Mann zurück, worauf Richard auf seine Kopfhörer deutet. Der Mann schreit: Löffelrente, fümf Pfeng, alles paletti. Ein anderer zeigt seine zerquetschte Hand vor: Spur der Steine, sagt er grinsend. – Ich stelle mir vor, dass du einer von den Jungs bist, sagt Richard auf der Rückfahrt. Auf euren Touren organisiert er Spanferkel, Radeberger, Zement oder Kupferrohr. In einem viel zu dunklen mitteldeutschen Kombinat staubt er dann doch ein Fahrrad für sein Enkelkind ab. Dieses Enkelkind wird ein Junge werden und Jakob heißen, so hat es ihm seine Tochter erklärt. Mit zehn wird dieser Jakob an die Pedale reichen.
Ich kann keine Noten lesen, aber es ist so eine schöne Musik in mir.
Um meiner Mutter das Gefühl zu geben, daß ich an meinem Versprechen festhalte, schickte ich ihr zur Einsichtnahme einen jeweiligen Durchschlag meiner gestellten Anträge. Ihre Dankbarkeit darüber und ihre Hoffnung auf ein baldiges Zusammensein bekundete sie in all ihren Antwortbriefen. Für mich war es mehr denn je moralische Verpflichtung, meiner Mutter im Alter beizustehen, genau so, wie sie es ein ganzes Leben lang für mich getan hatte. Ich bin weg.
Achtung, Vernehmerwitz: Auf einer Kundgebung legt sich ein Parteiredner mächtig ins Zeug: Im Frühjahr werdet ihr alle Bananen bekommen, in drei Jahren werdet ihr alle einen Farbfernseher haben und in fünfen ein Auto. Ruft einer aus dem Publikum: Und wo bleibt das Klopapier? – Ach, leck mich doch am Arsch. – Ja, das ist die individuelle Lösung, aber wo bleibt die kollektive? Der Vernehmer lacht.
Über dem Klo einer Ausflugsgaststätte steht auf einem Schild: Verlassen Sie diesen Ort, wie Sie ihn vorzufinden wünschen. Jemand hat daruntergekritzelt: Kants Spülung ist defekt.
Nun bist du siebenunddreißig Jahre alt und kennst Deutschland nicht.
In den Dünen hat Eva falsch zitiert: Und welch ein Glück, geliebt zu werden, doch lieben, Götter, welch ein Segen. Eva hat das Lieben über das Geliebtwerden gestellt. Du hast es nachgelesen, bevor du dich zu Jakob ans Bett gesetzt hast, bevor du weggegangen bist. Richtig heißt es bei Goethe: Und doch, welch Glück, geliebt zu werden, und lieben, Götter, welch ein Glück. Das Geliebtwerden ist also nicht schlechter als das Lieben. Als junger Mann hast du das Gedicht, ja: geliebt. Jetzt widert es dich an. Denn es ist ein scheinheiliges Gedicht. Es ist kein Liebesgedicht, es ist ein Abhaugedicht. Das lyrische Ich flieht. Seine Flucht ist anheimelnd, Caspar-David-Friedrich-Kulisse. Das lyrische Ich will heroisch und leidend dastehen, schon klar. Pflichtgemäß eine Strophe Abschiedsschmerz, das verheulte Pfarrersmädel bleibt zurück, während das lyrische Ich fest im Sattel sitzt. Aber es sind nicht
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