Das halbe Haus: Roman (German Edition)
wogende Büffelgras, ich bin ein Sänger, ich bin ein Denkmal, ich bin der springende Punkt, ich bin das Feuer, ich bin die Sonne, ich bin: gefangen in einem Zementstall, gefangen in einer Maschendrahtvoliere, gefangen in einem Glasziegelaquarium und in meinem Kopf.
Liebes Evchen, warum schreibst Du mir nicht, höre, Du musst mir schreiben. Du sollst nicht nackt duschen, ich meine, im Garten, kleide Dich ordentlich, bleibe im Haus. Trinke nicht, achte auf Dich. Warum schreibst Du nicht.
Zwohundertzwo-Zwo, offstehn. Sie gehen off Transport. – Nee, das könnt ihr doch nicht machen. – Ruhe, Zwohundertzwo-Eens. Sie sind jetzt nur noch Zwohundertzwo. – Kopf hoch, Krüger.
Der Beschuldigte Frank Friedrich wuchs, bedingt durch den Tod des Vaters, in zwiespältigen Familienverhältnissen auf. Rückschläge im privaten Bereich, insbesondere nach dem Tod seiner ersten Ehefrau, ließen beim Beschuldigten Unverständnis und Uneinsichtigkeit in Bezug auf gesellschaftliche Realitäten aufkommen. Von zuständigen staatlichen Organen getroffene, jedoch den Vorstellungen des Beschuldigten zuwiderlaufende Entscheidungen veranlassten ihn zunehmend, gesellschaftliche Erscheinungen ausschließlich einer tendenziös negativen Betrachtungsweise zu unterziehen, notwendiges gesellschaftliches Engagement abzulehnen und persönliche Probleme in den Vordergrund zu stellen. Darin wurde er noch durch den zeitweiligen Empfang von Sendungen des westdeutschen Fernsehens bestärkt. Daraus erwuchs schließlich sein strafbares Handeln.
Deine Frau sitzt reglos da. Irgendetwas ist mit ihrem Gesicht passiert, ihr Gesicht ist wie aus Porzellan und ein klein wenig schief. Sie sieht nicht zu dir her. Nur wenn du nicht schaust, blickt sie dich an, du spürst es und siehst sie auch nur an, wenn sie wegschaut. Dank dieser komplizierten Inszenierung treffen sich eure Blicke nicht. Das alles hier ist eine komplizierte Inszenierung, bloß diesmal stehst du auf der Bühne, und sie sitzt im Publikum. Es ist nicht der Tag der Befreiung, es ist der Tag der Freiheitsberaubung.
Ich liebe die Sonne, sagt Richard mit dünner Stimme. Er bereitet sich darauf vor, seiner Tochter nachzufolgen. Statt von der Sonne zu erzählen, fragst du ihn: Hast du immer alles richtig gemacht? – Aber wollen, sagt er. Sein Krebs haust nicht im Kopf, er haust im Darm. Den Kuchen rührt er nicht an. In seiner großen, dunklen Wohnung ist es jetzt still, Erna fuhrwerkt nicht mehr darin herum, und die Unruhen der Uhren arbeiten auch nicht mehr. Nur noch das Drehpendel der Jahresuhr schwingt. Es gibt die große Standuhr mit dem Glockenschlag, einen Regulator, der aussieht wie eine gotische Kanzel, Tischuhren, Kaminuhren aus Messing und Marmor, die Kuckucksuhr in der Küche und eben die Jahresuhr mit dem Glasdom. Richard allein durfte die Uhren aufziehen und stellen, die Pendel anstoßen, die Ketten mit den schweren Tannenzapfen ausgleichen. Am späten Morgen ging er durch die Wohnung und brachte die Zeit in Ordnung. Aufziehen darf man die Uhren erst, wenn die Öfen geheizt sind. Nie darf man sie überdrehen. Geh bis zum ersten Widerstand, aber weiter geh nicht. Ein letztes Mal ziehst du die Standuhr auf, die alle Geheimnisse für sich behielt. Wo findet man das heutzutage noch, so gute Manieren, solch eine Diskretion. Pfeiffer sammelt alte Armband- und Taschenuhren, die Kollektion ist seine Rente. Er will die ganze Sammlung mit rübernehmen. Manne Krug ist doch auch mit seinem gesamten Hausstand ausgereist, den Antiquitäten und den Oldtimern. Du findest das Flämmchen nicht, aber du hörst das Ticken von Richards abgelaufenen Uhren.
Rüdiger Pfeiffer wuchs in geordneten Familienverhältnissen auf. In der Privatfirma Leisegang in Leipzig erlernte er den Beruf des Uhrmachers und arbeitete dann in verschiedenen Betrieben in diesem und artfremden Berufen. Da Pfeiffer den dort geforderten Leistungen nicht gerecht wurde und ihm eine vom Elternhaus anerzogene kleinbürgerliche Denkweise anhaftete, sah er nur auf privatem Sektor Möglichkeiten, insbesondere seine finanziellen Bedürfnisse zu befriedigen.
Wie ein Hase auf Amphetamin sitzt Pfeiffer da, aufrecht, die Pfötchen im Anschlag. Er schaut immer wieder zu dir, an der Schulter seines Verteidigers vorbei, er dreht sich zu seiner Frau um, die bleich neben Eva sitzt, einen Kopf kleiner. Eva trägt ein weißes Sommerkleid, ihre Haare fallen lang, du kannst den schönen Schwung ihres Halses gar nicht sehen. Jakob fehlt. Er ist zum
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