Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Frank, aber Sie studieren ja noch, und wir kennen Ihre Familie überhaupt nicht. Vielleicht haben Sie ganz andere Vorstellungen vom Leben. – Hallo?, sagt Richard, ist da die Hauptpost zu Leipzig? Ich möchte gern mit Frau Polina Winter sprechen. – Was machst du denn da?, ruft Erna. – Guten Tag, hier spricht Richard August Reinhardt aus Naumburg. Wir kennen uns nicht, aber wir reden uns besser beim Vornamen an, denn in Zukunft werden wir miteinander verwandt sein. Ich schlage dir vor, sofort in ein Taxi zu steigen, damit du pünktlich zur Verlobungsfeier unserer Kinder hier bist. Auf meine Kosten. Polina, du bist herzlich eingeladen, bei uns zu übernachten. Ich gebe dir jetzt deinen Herrn Sohn, den der Blitz getroffen hat. Du aber, der Herr Sohn, fragst dich, ob deine Mutter jetzt auch neben Richard schlafen muss. Ob sie zur Prüfung antreten muss, fragst du dich, zur großen Erzählprüfung, damit du Friederike auch wirklich zur Frau nehmen kannst.
Der Hecht ist ein allein stehender Raubfisch. Die Maräne zum Beispiel ist ein Schwarmfisch.
Es gibt eine Kopfsprache, eine Briefsprache und eine Protokollsprache. Die Brief- und die Protokollsprache, die du selbst schon zensiert hast, werden geschwärzt, gefiltert und übersetzt. Nur auf die Kopfsprache kann nicht zugegriffen werden. Die bleibt in einer harten Schale.
In der Diktatur wird die Individualität plattgemacht, so sieht’s doch aus. – Nahein, hier wird sie erst geschaffen. Wie wir Sie ernst nehmen und von allen Seiten beleuchten, das kriegen Sie nirgendwo sonst geboten. Wir geben uns so viel Mühe mit Ihnen. Glauben Sie, im Westen kümmert sich irgendeine Sau um Ihre Ansichten, um das, was Sie denken, wo Sie herkommen? Dem Westen ist das scheißegal. Dort sind Sie ein ganz kleines Licht, völlig anonym. Alle Beziehungen sind Nutz- und Marktbeziehungen. Wenn Sie Geld haben, wenden sich Ihnen die Menschen zu. Ohne: keine Chance. Wir setzen kollektiv die Maßstäbe. Im Westen muss man sich den Maßstab seines Handelns komplett selbst erarbeiten. Man macht so viele Fehler, da nützt auch eine Lebensversicherung nichts. – Auch das ist Freiheit: das Recht auf Fehler. Ich will meine Fehler selbst machen. Und ja, Sie zollen mir Beachtung. Nur ziehen Sie die völlig falschen Schlüsse. – Sie sind ein Kohlhaas. Es soll Gerechtigkeit geschehen, auch wenn die Welt darüber zugrunde geht. Durch Ihre Unversöhnlichkeit verspielen Sie ein Recht, das Sie vielleicht sogar besitzen, ich sage vielleicht. Wir haben Sie mit Bildung versorgt, Sie kennen doch sicher den Kaukasischen Kreidekreis: Wer nachgibt, erhält Recht. – Geben Sie doch nach. – Sie sind unverbesserlich. Aber Sie wissen, dass ich hier an was rühre, nämlich an Ihren Hochmut und Ihre Selbstgerechtigkeit. Auch im Westen wird einer wie Sie scheitern. Sie werden immer im Parkverbot leben. Jede Vorschrift wird Sie kränken, ein Rezept wie ein Gesetz. – Wenn keine Gerechtigkeit geschieht, geht die Welt zugrunde.
Wer völlig entkleidet ist, trägt nur noch seine Scham.
Den Ingenieur Friedrich, Frank, verheiratet, ein Kind, in dieser Sache in Untersuchungshaft seit dem 12. 3. 1983 in der UHA des MfS Leipzig, Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Peters, sowie den Uhrmacher Pfeiffer, Rüdiger, verheiratet, ein Kind, nicht vorbestraft, in dieser Sache in Untersuchungshaft seit dem 12. 3. 1983 in der UHA des MfS Leipzig sowie seit dem 7. 4. 1983 im Haftkrankenhaus Dösen, Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Jagoda, klage ich an, mehrfach handelnd Verbrechen gegen die DDR begangen zu haben. Es sind dies Verbrechen gemäß den Paragraphen 99 in Verbindung mit 22, 106 Ziffer 2 in Verbindung mit 22 Ziffer 2 und 213 in Verbindung mit 63 St GB . Ich beantrage, das Hauptverfahren vor dem Bezirksgericht, 1. Senat, zu eröffnen.
Dem Staatsanwalt, dem Richter und beiden Verteidigern klebt ein Bonbon am Revers.
Dem Inschenjör ist nichts zu schwör, sagt Richard. Bald musst du Frau und Kind ernähren, mein Junge, daher habe ich meiner Kombinatsleitung klargemacht, dass ich einen Gehilfen brauche. Hier ist ein Helm, morgen um sieben geht die Reise los. Richard fährt einen schwarzen Wolga mit blauen Samtsitzen. Er behauptet, dass einst Berija damit chauffiert wurde. Jetzt wird Richard Reinhardt, Messexperte im Chemiekombinat Leuna, von seinem Gehilfen, einem frischgebackenen Ingenieur und zukünftigen Schwiegersohn, damit chauffiert. Ich liebe das flache Land, sagt Richard, was fällt dir zum
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