Das halbe Haus: Roman (German Edition)
am Zaun, er überstreicht es einfach. »Soll ich dich mal ablösen?«, versucht es Falk weiter. Der Pinsel bewegt sich, ab und zu bleibt eine Borste im Lack kleben. »Ich kann gut streichen«, lässt Falk nicht locker. Er steigt von seinem Gefährt, das ein BMX -Rad darstellen soll, und legt es auf den Bürgersteig. Im Schneidersitz hockt er sich auf den Boden und starrt ihn an. Nach einer Weile sagt er: »Meine Schwester kommt nicht mehr zurück.« Das Gleiche, denkt sein ehemaliger Blutsbruder, könnte ich auch sagen, obwohl es ja gar nicht meine Schwester ist. Er lässt den Pinsel sinken und überlegt. Genau genommen vergeht Blutsbrüderschaft nicht. Er schluckt, räuspert sich und sagt: »Ich …« – »Ey, mach das noch mal«, sagt Falk. Voller Verwunderung sagt er noch einmal: »Ich.« Wieder ist seine Stimme schwer wie ein gebrannter Ziegel, der tief in einen Schacht fällt. Liegt es daran, dass er seit zwei Tagen mit niemandem gesprochen hat, oder ist das jetzt endlich der Stimmbruch? Vorsichtig, als könnte er die neue Stimme ramponieren, sagt er: »Was bekomme ich?« Die Stimme hält. – »Übelst«, sagt Falk mit seiner noch hellen Stimme und drückt sich hoch. »Na ja, ich würd dir ’n Türknopf, ’n angebissenen Appel, ’ne tote Ratte, ’n Glasauge und ’ne Dose Orange vermachen, wenn ich auch mal ’ne Runde streichen dürfte, Master Jack.« Sie lachen, bis ihre Adamsäpfel schmerzen, hoho und hihi.
Von zu Hause holt Falk eine verbeulte Dose »Gefahrenanstrich«, den die Reichsbahn für Lichtmasten, Tunneleinfahrten und Prellböcke verwendet. Falk malt damit die geschmiedeten Ringe im Zaun an, während sein Blutsbruder die Streben billardgrün streicht: Bleistift, zwei Apfelsinen, Bleistift, zwei Apfelsinen. Der Briefkasten bekommt auch einen Gefahrenanstrich. Während sie streichen, sagt er ab und zu ein Wort, sehr darauf bedacht, die tiefen Noten sparsam zu verwenden. »Da«, sagt er, und »Hand«, als sich Falk selbst lackiert. »Wann kommt denn deine«, fragt Falk, »Tante Polly wieder?« Er zuckt die Schultern und sagt bloß: »Kannst da schlafen.« Er macht einen Bogen um die hellen Laute und zeigt auf das Haus. »Okey«, sagt Falk.
Sie hängen das Sonnenblumenbanner auf und spannen die Hängematte zwischen die Wäschestangen, den Wind freut’s. Auch Falk macht sich einen Bangor, jeden Morgen frischen sie ihre Hahnenkämme auf. Sie ernähren sich miserabel. Weder ihren humanitären noch ihren hygienischen Pflichten kommen sie nach. Zehn Tage lang sehen sie fern. Abwechselnd richten sie die Antenne aus.
Drüben protestieren über eine Million Menschen gegen die Aufstellung amerikanischer Atomwaffen. Kinder malen Plakate: »Schülerpower gegen Raketenbauer«. Bei Blockaden greift die Polizei ein, mit Knüppeln und Wasserwerfern, aber Hiroshima darf sich nicht wiederholen. Petra Kelly und Otto Schily – das sind Abgeordnete einer neuen Partei – reisen nach Ostberlin und überreichen Erich Honecker einen persönlichen Friedensvertrag, den der Obermufti auch unterzeichnet. Unterschreibt der eigentlich alles? Honni nimmt eine Nachbildung der Plastik »Schwerter zu Pflugscharen« entgegen, und Margot hat Polinas Haarfarbe: Omablau. Auch Franz Josef Strauß war in diesem Jahr schon zu Besuch. Ob die alle umtauschen mussten?
Als Eva heimkommt, sieht das ganze Haus aus wie ein einziger Schweinestall. Sie steigt aus dem Trabi ihres nicht sehr großen Arbeitskollegen und berührt mit dem Finger den Zaun. Sie steht auf ihrem langen Schatten, der Himmel hat die Farbe von Zimt, sie hebt den Kopf, und möglicherweise erblickt sie hinter der Gardine den bestfrisierten Tieftöner der ganzen Stadt, o Ma-ma. Der aber behält sein wohlklingendes Geheimnis für sich und lässt alle Fragen nach dem Vorhandensein seines Gripses und seines Anstands unbeantwortet. Der Wind pflückt die gärenden Birnen, die Gruschki, und die Amseln berauschen sich daran.
Bei Metzi im Schuppen roochen sie. In der Ecke steht ein Kanonenofen, der glüht, und an der Bretterwand hängen echte Fickfotos. Metzis Eltern arbeiten Schicht. Sie würfeln um Geld. Sechs Bierdeckel liegen auf der Stiege, auf jeden ist eine Augenzahl gemalt. »Jetzt kommt wetten die Drei, alles auf die Drei.« Es kommt die Doppel-Fünf. Er ist kein Liebling der Götter und will es nicht wahrhaben. Er verspielt seine Schlittschuhe und seine Adidas-Spikes. Einer muss immer diesen dämlichen Spruch loslassen, Pech im Spiel und so. Ihre Hahnenkämme
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