Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Birnenjahr. Am Schuppen lehnt der lange Pflücker mit der Krone und dem teefarbenen Beutel.
Am Tag vor den Herbstferien flaggt die Schule und die halbe Straße: Das Land feiert Geburtstag. Seine Gründung war die schwerste Niederla- des dtschen Fismus und der Endepunkt in der Geschichte unseres Volkes, von dem so viel Eid ausging. Die neuen FDJ ler bilden den Ostflügel des Gevierts, das sich vor der Schule formiert hat. Der Wind ist ein unwirscher Friseur, und der Ozialismus ist die einzige Gesellschaftsordnung, die das Wohl, die Freiheit und die Ürde des Menschen ver-. So sagte es Erich Honecker auf dem zehnten Parteitag, und so wiederholt es Frau Dornbusch mit zerzauster Dauerwelle. Der Lehrkörper bildet die Stirnseite des Gevierts, die Direktorin steht an einem Pult mit Emblem. Der Wind ist auch ein garstiger Tonmeister, er klopft aufs Mikro, bringt die Boxen zum Pfeifen und zerreißt manch Wort und manch langen Satz der Direktorin. Sich mit ganzer Kraft für ihr Land, den Ozialismus, die Völkerung und den Wieden einzusetzen, das geloben die Neuen feierlich. Die jüngsten Pioniere überreichen den jüngsten FDJ lern je eine rote Nelke, die Zipfel ihres Halstuches kitzeln ihre Nasen. Weil sie die zwei verängstigten Jungpioniere nicht bloßstellen wollen, nehmen auch Kerstin Wenzel und Jakob Friedrich eine Blume entgegen. »Frndschaft!«, ruft Frau Dornbusch, und »Frndschaft« nölen die FDJ ler zurück. Abschließend werden für besondere sportliche Leistungen im vergangenen Schuljahr ausgezeichnet: der Judoka Robby Meyer im Blauhemd und der Leichtathlet Jakob Friedrich im T-Shirt (Nicki!). Sie erhalten Urkunden und zur Abwechslung mal Nelken. Der Obermufti höchstpersönlich hat die Urkunde aus Büttenpapier unterschrieben. Vom Tafelberg fliegt sie bis nach Lößnig, die Nelken kommen auf Theos Grab. Der Leichtathlet Jakob Friedrich müsste mal wieder Leichtathletik machen. Er müsste auch mal wieder zum Grab seiner Mutter gehen. Er müsste mal wieder Kastanienmännchen mit Streichholzgliedern bauen.
Obwohl es an Geld mangelt, möchte Eva an der Rüstzeit teilnehmen. Auch er soll mitfahren und bei Bibelolympiade, innerer Einkehr, Töpfern, Musizieren, Geselligkeit und Wanderungen einfach mal ein ganz normaler Junge sein. Mit Händen und Füßen sträubt er sich dagegen. »Rüstzeit ist Stabü für Gott«, sagt er. Er sagt es zu Eva, zu Kerstin und zum Pfarrer. Am Ende fährt Eva allein, und er geht allein ins Kino.
Im Lindenfels sieht er einen Kung-Fu-Film. Wie die Pandabärchen hängen die Kämpfer im Bambus, sie schlagen Salti vom Pagodendach und ohrfeigen sich mit den Ärmeln ihrer Kittel. In dunkler Nacht blitzen ihre Shuriken. Über die ganze Leinwand ist der schwarz umhüllte Kopf eines Ninjas zu sehen. Nur die Augen sind zu erkennen, dunkle Löcher in kaltem Weiß. Das ist jetzt wohl der Dämon. Plötzlich fragt er sich, ob sonst noch jemand im Kino ist, abgesehen von dem alten Arschloch Angst, das sich hier irgendwo in seiner Nähe niedergelassen hat. Doch er ist ganz allein mit seiner Angst. Etwas sticht in seinen Nabel und tiefer. Als er das Kino verlässt, können sich seine Augen kaum an das strahlende Licht gewöhnen. Am Adler fällt die Bimmel aus. Er will nicht nach Hause gehen und geht irgendwohin. Er steigt einem Mädchen im kurzen Kleid und mit kräftigen Beinen nach. Er latscht bis zur Nordstraße, aber keine Frau feilt momentan auf dem Strich. Im Intershop des Merkur maust er eine Dose Haarfestiger von Schwarzkopf. Er macht sich einen Bangor und geht so über die Zickzackbrücke zur Blechbüchse. Der Wind kommt nicht an gegen seinen Hahnenkamm, Qualitätsprodukt. Guckt nur, ihr alle. Schwarz fährt er Straßenbahn, heute zeigt er’s denen von den Leipziger Verkehrsbetrieben mal so richtig. Die Lehrlinge vor den Reichsbahnbaracken haben keine Ferien, sie johlen ihm nach: »Kleenes Stachlschwein.«
In der Garage kramt er Lackdosen und Pinsel hervor. Er muss die Borsten mit Verdünner reinigen und auch dem zähen Billardgrün Verdünner zufügen. Das Chromgelb ist ganz ausgehärtet und das Fernblau auch. Er streicht den Zaun in der Farbe des Škoda. Es ist mühsam, er überlegt, Vaters Lackierpistole zu benutzen, versteht aber nicht, wie sie funktioniert.
Falk Ulmen, der mal sein bester Freund war, macht eine Rennbremsung auf dem Bürgersteig. »Schaue Haarfrisur«, sagt er. Der kann sich den Mund fusslig reden, der Kunde. »Anstrengend? Das Streichen?«, fragt Falk. Birkenlaub haftet
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