Das halbe Haus: Roman (German Edition)
zuschießen. Mit dem neuen Zirkel kann man Namen von Musikgruppen in die Bank ritzen. Zappa, Black Sabbath und Kiss mit blitzartigem S stehen schon da. SS oder SS 20 haben ebenfalls zwei Blitze. Ein Mann von der Gesellschaft für Sport und Technik tritt vor die Klasse und fragt, wer sich fürs Segelfliegen interessiere. Alle Jungs melden sich. Diejenigen, die schlechter als Zwei in Sport stehen, sollen den Arm runternehmen. Diejenigen, die Plomben haben oder eine Brille tragen, sollen den Arm runternehmen. Diejenigen, die nicht in die FDJ eintreten werden, sollen den Arm runternehmen. Diejenigen, die Westverwandtschaft haben, sollen den Arm runternehmen. Jetzt meldet sich nur noch Falk Ulmen. Klar, ein Messeonkel ist kein echter Onkel. Statt mit Schlagbällen werfen sie jetzt mit Handgranaten. »Von den blauen Bergen kommen wir, ficken schon seit achtzehnhundertvier. Lassen unsern Samen in den Unterleib der Damen, von den blauen Bergen kommen wir.«
Das erste Gedicht, das sie in der zweiten Klasse auswendig lernen mussten, geht so: »Ganz unverhofft, an einem Hügel, sind sich begegnet Fuchs und Igel. ›Halt‹, rief der Fuchs, ›du Bösewicht! Kennst du des Königs Order nicht? Ist nicht der Friede längst verkündigt, und weißt du nicht, dass jeder sündigt, der immer noch gerüstet geht? – Im Namen seiner Majestät, geh her und übergib dein Fell!‹ Der Igel sprach: ›Nur nicht so schnell! Lass dir erst deine Zähne brechen, dann wollen wir uns weiter sprechen.‹ Und alsogleich macht er sich rund, schließt seinen dichten Stachelbund und trotzt getrost der ganzen Welt, bewaffnet, doch als Friedensheld.«
Am Monatsende beginnt die DDR mit dem teilweisen Abbau von Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze, heißt es im Westfernsehen. Und Kinder aus dem nichtsozialistischen Ausland im Alter von sieben bis vierzehn müssen jetzt nicht mehr 7,50 DM pro Tag umtauschen. Die Bundesregierung begrüßt diese Maßnahmen, die mit dem vielen Westgeld zu tun haben, das aber in der Regenstraße noch nicht eingetroffen ist.
»Jakob, nehmen Sie den Kaugummi raus, aber bisschen plötzlich!« – »Woher wollen Sie denn wissen, dass der einen im Mund hat?« – »Seine Ohren wackeln.« Nach der Geschichtsstunde pult der Schüler Jakob Friedrich, dessen Vater vor Jahren und seitdem immer wieder einen Ausreiseantrag gestellt hat und der wegen einer Flugblattaktion und vieler anderer Verbrechen gegen die DDR inhaftiert ist, den Kaugummi von der Unterseite seines Stuhls. Mit den Waden schiebt er den Stuhl zurück und steckt sich den Kiesel wieder in den Mund. Zu seinem Klassenlehrer sagt er kauend, dass er nicht in die FDJ eintreten werde. Die ganze Klasse hört es. »Ist das Ihr eigener Entschluss«, fragt Dr. Müller, »oder hat das jemand anders für Sie entschieden?« – »Da bin ich ganz allein draufgekommen«, sagt Jakob Friedrich mit wackelnden Ohren. Als seine Stiefmutter in der Nacht nach Hause kommt, erwartet er sie in der Küche. Wie besessen beißt er auf dem geschmacklosen Kaugummi herum. »Ich werde mich nicht taufen lassen«, sagt er zu ihr, »auch wenn du es gern möchtest.« – »Dann wirst du ein Blauhemd?«, fragt sie mit schwerer Zunge und steckt sich eine Duett an. »Auch das nicht«, sagt er. »Ich will in gar keinem Verein sein.« Sie klemmt sich die Zigarette in den Mund und klatscht in die Hände, bis die Asche zu Boden fällt. »Bravo«, sagt sie höhnisch aus dem Mundwinkel, ein Auge zugekniffen. »Bravo. Du bist auf dem besten Weg.« Es klatscht sich besser ohne Ehering. Er geht in die Garage und holt Hammer und Nagel. Der Kaugummi bekommt einen Ehrenplatz neben seinen Medaillen. Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.
Damit er Leo nicht vergisst, klebt er ein Foto von ihr neben das Passbild seines Vaters. Vor dem Einschlafen redet er mit sich und den Bildern. »Es geht vorbei, es geht weiter«, sagt er, »die Wolken werden ziehen. Die Bäume werden ausschlagen, irgendwann wird es nicht mehr so schlimm sein, ein Vogel wird singen, ein Regen wird nur noch ein Regen sein.« Er darf nicht ungerecht sein: Es kamen nicht nur warme Milch und Kartoffeln von der Großmutter, sondern auch warme Worte.
An und für sich ist der Oktober ein schöner Monat. Das Licht ist stofflich, die Luft riecht nach Eicheln, obwohl die noch hängen, die Kastanien sprengen aber schon ihre Morgensterne, und der Wind weht durch die Hallen. Schwer trägt der Birnbaum, es ist mal wieder ein
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