Das halbe Haus: Roman (German Edition)
offen stehen. In den Eimer legt sie die schmale Schippe und drei Briketts und steigt die Treppe zum Kinderzimmer hinauf, wo die Kälte und der Holzwurm im Gebälk hocken. Der Trick ist: Am Abend zuvor muss man das letzte Brikett in Zeitung einschlagen. Die Papierasche verhindert, dass die Kohle ganz verglüht, und so braucht man am Morgen nicht neu anzufeuern.
Vom Flur fällt Licht in Jakobs Zimmer. Mario und Marion schlafen in einem Beistellbett, und ihr ältester Enkel liegt bäuchlings, mit angewinkelten Armen, flach auf seiner Matratze unter dem Baldachin aus Holz. Die Wand, an der sein Bett steht, hängt voller Urkunden, und Medaillen schimmern im Halbdunkel. Der Junge atmet gleichmäßig, die Decke hebt und senkt sich leicht. An Mutters statt hat sie ihn aufgezogen. Er war ein kränkliches Kind, weinerlich und aufbrausend zugleich. Als Dreijähriger stand er vor ihr, und sie wollte ihm die selbst gestrickten Fäustlinge anziehen. Per Schnur, die sie durch die Ärmel gefädelt hatte, waren sie miteinander verbunden und baumelten vor seinen Händen. Auf dem Kopf trug er die gleichfarbige Mütze mit der übergroßen Bommel, schon die hatte sie ihm unter Drohungen über die Stirn ziehen müssen. »Die Mütze kratzt«, hatte er geklagt, klar und deutlich sprechend, bereits ein wenig breit im Dialekt, und nur mit größtem Widerwillen hatte er sie auf dem Kopf behalten. Doch bei den Handschuhen blieb er hart. Er ballte seine Hände, klappte die Daumen ein und krallte die Finger in die Handballen. Es half kein gutes Zureden, die Handschuhe kratzten. »Aber du hast sie doch noch gar nicht anprobiert«, gab sie zu bedenken, »du weißt doch gar nicht, ob sie kratzen. Draußen ist es kalt, und so bleiben deine Händchen schön warm.« – »Die Handschuhe kratzen«, antwortete er und starrte grimmig ins Leere. Natürlich, sie waren aus derselben Wolle wie die Mütze gestrickt, und wenn die kratzte, kratzten auch die Handschuhe. »Weißt du, wie viel Mühe und Arbeit mir das Stricken gemacht hat?«, fragte sie ihn. Noch immer stierte er vor sich hin, sein Mund eine Schippe, die Hände zwei kleine bleiche Fäuste, und dann sagte er: »Die Handschuhe sind Furz.« Polina kniete sich vor ihn und packte seine rechte Faust, um sie zu öffnen. Herrgott, er war drei! Sie rüttelte und klopfte und versuchte, die kleinen Finger gerade zu biegen, ihren Zeigefinger in die Faust zu schieben, den Daumen herauszuhaken. Sie schaffte es nicht. Bebend vor Wut und Scham, stand das Kind vor ihr und starrte über sie hinweg. Sie gab auf, erhob sich und zog ihm die Mütze vom hochroten Kopf. Am liebsten hätte er auch den geballt. »Woher kennst du nur solch schlimme Worte!«, sagte sie und schüttelte ihre Locken.
Am Ofen rüttelt sie die Asche in den Kasten und legt die drei Briketts auf. Unten sind Frank und Almut aufgestanden, auch Cora und Jasper, die im selben Raum auf Luftmatratzen geschlafen haben. Sie reden leise miteinander. Siegmar, Inge, Anita und Mo schlafen noch im Raum daneben. Nur Rudolf und Edelgard sind nach Hause gefahren, sie werden direkt zum Bahnhof kommen. Heute wird keiner von ihnen zur Arbeit gehen, und die Kinder bleiben der Schule fern. Selbst Siegmar wird blaumachen. Sie schiebt die Tür auf, sodass mehr Licht ins Zimmer fallen kann. Kinder, aufstehen, will sie gerade sagen, da ertönt ein dünnes Piepsen. Jakobs neue Uhr. Er dreht sich zu ihr und schaltet den Alarm aus. »Oma, wenn du weg bist, gehört das Fotoalbum dann mir?«
Zwei Stunden später sind alle auf dem Bahnsteig versammelt. Auf einer von dreißig Plattformen, unter einem der sechs hohen Gewölbe. Es ist Montag, die Menschen eilen zu ihren Zügen, weißen Atem vor den Gesichtern. Zerknüllte Zeitungen liegen im Gleisbett. Soldaten stehen in Gruppen und rauchen, Paare umarmen sich, auf einer Bank sitzt eine Frau, sie presst die Knie zusammen und hat das Gesicht in ihre Hände gelegt. Auch die Säufer sind schon auf den Beinen. Beamte von der Transportpolizei patrouillieren über die Bahnsteige. Mit hartem Schlag fliegen die Tauben durch die dunkle Kuppel, ihr Kot und ihre Federn kleben auf dem genieteten Stahl. Aus den Lautsprechern scheppern Worte.
Wer sich um das Kommen und Gehen nicht schert, wer den Abschiedsschmerz nicht zulässt und die Wiedersehensfreude unterdrückt, wer die Zeit vergisst und den Kopf in den Nacken legt, der sieht es: ein Leuchten und Schimmern, hoch oben in der Kathedrale. Dessen Herkunft ist völlig rätselhaft. Von
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