Das halbe Haus: Roman (German Edition)
der den Geschmack der Fremde probiert, jenen köstlichen Saft, der die Männer stark und die Frauen schön macht. Niemand sonst will die Kokosmilch von seinen Händen kosten, obwohl er es reihum anbietet.
Als sie zurück zum Haus stapfen, durch den harschen Schnee, sagt Mo, zu wem auch immer: »Die Affen schmeißen die Nüsse ins Wasser. Sie treiben bis zum Südpol. Zum Erstaunen der Pinguine.«
»Ist ja gut, Mo«, sagt Frank und legt ihm den Arm um die Schulter.
Mo sagt: »Vom Schiff aus riecht man die Insel. Viele Seemeilen entfernt riecht man den Zimt von Ceylon oder Sri Lanka oder wie die Scheißinsel heißt.«
Polina folgt ihnen. Jasper hakt sich bei ihr unter, wer führt hier eigentlich wen zurück zu ihrem halben Haus? Sie muss daran denken, wie Frank ihn zum ersten Mal mit nach Hause gebracht hat, einen dunkeläugigen Kunststudenten, der aussah wie ein Zigeuner und der mit seinem Motorrad Hochstarts fabrizierte. Schon bald hatte dieses Motorrad einen Beiwagen, in dem saß Cora. Gepunktetes Tuch im Haar, rote Lippen. Ein paar Jahre später erfuhr Polina, wie sich Frank und Jasper kennengelernt hatten.
Sie trafen sich bei einer Serenade. Unter dem Fenster eines Mädchens, das sie anhimmelten. Eine Schönheit war das, üppig, die Nase immer gehörig hoch tragend. Eine, die Bücher las, Klavier spielte, Schauspielerin werden wollte. Spielen tat sie, bevorzugt aber mit den jungen Männern. Wenn nachts einer Steine an ihr Fenster warf, schaltete sie das Licht aus und kam doch nicht herunter. Sie konnte gut zeichnen und porträtierte Frank. Einmal zeichnete sie ihn, wie er als alter Mann aussehen würde. Mit Haarkranz und Brille, irgendwie gütig dreinblickend. Polina hat das Porträt aufgehoben und die Erinnerung, dass ihr Sohn in dieser Zeit kaum aß und Abende lang traurige Gitarrenballaden spielte. Er sprach kaum, sie hat sich ihren Reim darauf gemacht. Später, als alle miteinander befreundet waren, wurde aus dem stillen Leid eine Tischgeschichte, die immer mit großem Hallo erzählt wurde. Die Geschichte geht so: An einem lauen Frühlingsabend – Flieder, Mond, das ganze Tamtam – pilgert Frank zum Haus seiner Angebeteten, die Gitarre auf dem Rücken, das Plektrum zwischen den Zähnen. Unter ihrem Fenster steht aber schon einer. Einer mit Mundharmonika. Frank stellt sich neben ihn, und beide schauen nach oben, wo Licht brennt. »Was wolltst’n du spielen?«, fragt der mit der Mundharmonika. Frank betrachtet den von oben bis unten. Freundliches Gesicht, das reinste Wohlwollen, umrahmt von einer Matte dunkler Kopf- und Barthaare. Jeans, Parka, T-Shirt, Jesuslatschen. Frank sieht an sich hinab: Parka, T-Shirt, Jeans, Jesuslatschen. Dann sagt er: »Was wolltst’n du spielen?« – »›Girl from the North Country‹«, sagt Jasper. »Kannst du?« – »Dylan und Cash. Klar.« Sie spielen. Jasper zieht und wendet und isst die Töne, Frank schlägt die Akkorde und singt. Er singt: »She once was a true love of mine.« Als sie fertig sind, geht das Licht aus. Sie merken es kaum, denn sie sind schwer beeindruckt voneinander. »Kennst du ›Midnight Special‹ von Sonny Terry und Brownie McGhee?«, fragt Frank, und Jasper lässt einen Zug anrollen. Unfasslich, klingt wie ein echter Zug. Den Refrain singen beide. Dann spielt Jasper den »Orange Blossom Special«, ahmt das Rattern der Räder nach, das lang gezogene Signal. Als er fertig ist, klatscht Frank. Die Angebetete ist vergessen, bis sich ihr Fenster öffnet. Ein Kerl mit nacktem Oberkörper lehnt sich heraus. Breiter, behaarter Brustkorb, muskulöse Arme und Schultern. »Könnt ihr Knalltüten mal mit dem Katzenjammer aufhören!«, ruft der Typ, der noch nicht Mo, sondern Moritz heißt und Kadett bei der Handelsmarine ist. Neben ihn tritt die Besungene, die Schöne, die Talentierte. »Kommt schon rauf«, spricht sie, und Frank und Jasper befolgen ihren Befehl: Cora. So geht die Geschichte.
In der Nacht nimmt etwas Gestalt an: ein fernes Wehen, das zuerst ganz zart und unwirklich ist, aber unzweifelhaft näher kommt, immer weißer und fester wird, bis es als Rauschen zu erkennen ist, das auf einmal im Raum steht, fett, für einen Moment tatsächlich den Raum ausfüllt, um dann wieder zu entweichen, sich zu entfernen und immer mehr zu verblassen und ganz zu versickern. Das Rauschen ist ein Fernzug, der durch die Nacht fährt. Es ist ein unwahrscheinliches Geräusch, denn es gibt keine Bahnstrecke in der Nähe, doch Polina hat das Geräusch gehört und
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