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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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außen kann dieses Licht nicht stammen, denn die Glassegmente sind verrußt und blind und seit Jahrzehnten nicht gereinigt worden. Aber das Licht ist da. Am Schmutz, am Dunst, am Rauch muss es sich selbst entzündet haben.
    Polina hat gelernt, den Schmerz zu unterdrücken und die Freude nicht zuzulassen. Am Anfang, auf der Flucht und in den Jahren des Krieges, als zuerst Anni verschied und dann Emil, Arthur und Tati fielen beziehungsweise verreckten, da hat der Schmerz sie noch übermannt. Alle sagten, das Leben gehe weiter, und sie hatte auch gar nicht geweint. Konnte nicht. Wenn sie am Tag ihre Arbeit verrichtete, im Haushalt oder beim Hutmacher, merkte sie beinahe nichts von ihrem Verlust. Doch der Schmerz konnte ganz unvermittelt kommen. Er fing an als ein Stoß in den Bauch, aus heiterem Himmel stieß sie etwas hart in den Bauch, und dann floss etwas darin aus: Ihr Bauch wurde ausgegossen. So stand sie am Plättbrett und musste sich krümmen und kam nicht mehr hoch, heillos verwundert. Der Schmerz ging vom Bauch in die Brust, goss die Lunge aus, floss weiter in den Rachen, machte ihn hart, in den Kopf, in die Arme und die Beine. Wenn sie so ausgegossen war, der Luft, der Bewegung und der Gedanken beraubt, kam die Angst hinzu, als Hämmern im Schädel, das hinab auf ihr Herz fiel, und ihr Herz flatterte und schlug und wummerte, als wollte es zerspringen. Dann kamen die Gedanken wieder, jedoch die eisblauen Gedanken: Geh zum Fluss. Du bist schwer, ausgegossen, wirst sinken. Stell das Herz ruhig, ertränke die Angst. Nur mit höchster Konzentration konnte sie die moosgrünen Gedanken herbeirufen, die besagten: Es geht vorbei, es geht weiter, die Wolken werden ziehen, die Bäume werden ausschlagen, irgendwann wird es nicht mehr so schlimm sein, ein Vogel wird singen, ein Regen wird nur noch ein Regen sein. Und tatsächlich: Irgendwann war es nicht mehr so schlimm. Irgendwann vergaß sie. Ein Vogel sang, der Flieder blühte, die Sonne wärmte. Das alles wirkte nun zwar nicht mehr so stark auf sie ein, aber der Schmerz tat es eben auch nicht. Sie lernte, sich nicht mehr allzu sehr zu freuen, nicht mehr allzu sehr zu hoffen oder gar zu lieben. So konnte sie es auch erdulden, als er von ihr ging, als sie ihn ihr wegnahmen. Sie hatte ja den Sohn. Doch ihr Sohn ist anders als sie. Er kann partout nicht aufhören zu hoffen.
    »Kinders, jetzt macht nicht solche Gesichter«, sagt Polina und streicht jedem Enkel über die Wange. »Ich bin doch nicht aus der Welt«, fügt sie hinzu, aber es stimmt nicht. Sie küsst Edelgard und nimmt Rudolf in den Arm. Seine gelähmte Seite ist wie Teig, mit der Linken umfasst er sie kraftlos, und sie hält ihn. Panzer fahren über ihre Köpfe, sie essen vergorene Früchte, und ihre Ohren sind verschlossen. Putz rieselt in seine geweiteten Augen, aber er schreit nicht. Drüben am Fluss ist alles Leben tot. Dem Fluss ist das völlig egal, er hat keine Eile und keinen Grund. Sie wird über den Fluss gehen. Sie reißt sich los und umarmt Mo, Jasper, Cora und die reizende Anita. Mo deutet einen Handkuss an, bei Mo muss sie immer lächeln. Aus seinem schweren Mantel zieht er ein Zeitungsbündel. Er zuckt mit den Achseln und sagt: »Zum Lesen, für die Fahrt.« Sie küsst Siegmar und Inge. Von Frank unentdeckt, hat Inge ihr ein Dutzend ausgeblasener Eier geschenkt, nach sorbischem Brauch verziert. Damit die Ostereier heil in ihrem neuen Leben ankommen, hat Polina die Packung mit Watte gepolstert und zwischen ihre Wäsche geschoben. Am Rand stehen Almut und Frank. Sie gibt der blassen Almut, die bald passé ist, die Hand und tritt zu Frank. Er gleicht ihm aufs Haar, blitzend blaue Augen, das männliche Kinn, die ganze Statur. Er regt sich nicht, hebt weder die Arme noch den Blick. Sein rechtes Augenlid zuckt, er verzieht den Mund wie zum Hohn, dann zittern die Lippen, und er schnappt nach Luft. Sie umarmt auch ihn. Er ist fünfunddreißig Jahre alt, vor neun Jahren ist seine Frau verstorben beziehungsweise verreckt, und er kann einfach nicht aufhören zu hoffen. Er steckt in der falschen Haut und im falschen Land. Sie bringt es nicht fertig, ihn freizusprechen. Sie kann nur sagen: »Ich werde alles ganz schnell angehen.« Sie wendet sich ab, dreht sich um, sucht Jakobs Blick. »Das Album gehört jetzt dir«, sagt sie.
    Als der Zug anruckt, winken alle, auch Rudolf und Frank. Sie winkt zurück und beobachtet sich dabei. Alte Leute winken komisch: mit steifem Handgelenk, die Finger unbeweglich, als sei

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