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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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das?«
    »Na, wohin fahren Sie?«
    »Ich fahre nach Bad Itz. Da wohne ich.«
    »Oh, wie paradiesisch! Mein Mann und ich, wir haben einmal in Itz gekurt. Die Heilquellen, die Sommerkonzerte. Wir haben es so genossen. Die Spaziergänge im Rosengarten. Leider hat es nichts genützt für seine Gesundheit. Obwohl wir früh, mittags und abends das Heilwasser getrunken haben. Manche bekommen es gar nicht herunter, es enthält ja wohl auch Schwefel.«
    Polina beeilt sich, der Dame zu bestätigen, dass das Itzer Heilwasser Schwefel enthält. »Mir schmeckt es auch nicht«, sagt sie und überlegt, wie es denn nun in Bad Itz sein wird: paradiesisch oder schweflig. Die Frage ist wirklich nicht geklärt, die Frage, wie es im Westen ist. Frank sagt, alles ist neu und schön, man kann reisen, die Menschen sind selbstbewusst und frei, sie leben nicht in Knechtschaft. Sie hatte nie das Gefühl, in Knechtschaft zu leben. Siegmar sagt, die im Westen laufen dem Götzen Geld hinterher, Tanz ums Goldene Kalb, Arbeitslose, Drogen, Kriegstreiberei. Die Worte »Rosengarten« und »Heilwasser« hat er nie in den Mund genommen.
    Aus ihrer Handtasche holt sie die Volkszeitung, die Mo ihr mitgegeben hat. Es sind zwei Ausgaben, die vom Wochenende und die von heute. Die Dame hat eine schwarze Augenmaske aufgesetzt und atmet durch die Nase. In der Rubrik »Wir und unsere Zeit« liest Polina die Zitate und Aphorismen. An erster Stelle steht ein Sinnspruch von Otto Grotewohl: »Wachse über dich selbst hinaus, indem du in die menschliche Gesellschaft hineinwächst.« In derselben Kolonne, ein paar Zeilen tiefer, steht eine Weisheit von Wladimir I . Lenin: »Aus einem kleinen Fehler kann man stets einen ungeheuerlich großen machen, wenn man auf ihm beharrt, wenn man ihn tief begründet, wenn man ihn zu Ende führt.« Das Wetter wird als wechselnd beschrieben. Zeitweise stark bewölkt und einzelne Schneeschauer. Nachts bis minus zehn Grad. Aussichten: Frostwetter. Im Innenteil der Montagsausgabe wird vom Besuch des Bundeskanzlers beim Generalsekretär des ZK der DDR berichtet. Ein gemeinsames Kommuniqué und Tischreden sind abgedruckt. Der Bundeskanzler hat gesagt: »Herr Generalsekretär, wir haben beide am 1. August 1975 unsere Unterschrift unter das Dokument gesetzt, das man seither die Schlussakte von Helsinki nennt.« Der Generalsekretär hat irgendwas gesagt. Am Ende sagte er: »Auf das Wohl der Bürger der DDR und der Bürger der Bundesrepublik Deutschland.« Der Bundeskanzler erwiderte: »Herr Generalsekretär, ich trinke auf Ihr Wohl, auf das Wohl aller Deutschen und unseren gemeinsamen Frieden.« Die folgende Seite wird gänzlich eingenommen von der Ansprache des Armeegenerals W. Jaruzelski zur Verkündigung des Ausnahmezustandes in der Volksrepublik Polen.
    Der Zug steht. Sie hat die Zeitungen in den Abfallbehälter zwischen den beiden Klapptischen gesteckt. Die Dame schläft noch immer. Sie hat die Hände vor dem Bauch gefaltet und die Beine so weit von sich gestreckt, dass Polina ihnen ausweichen muss. Der Zug steht, weil die Grenze erreicht ist. Solange sie zurückdenken kann, sind die Züge immer stehen geblieben, und es verhieß nie etwas Gutes. Sie greift nach ihrer Handtasche, um die Dokumente herauszuholen.
    Ein Staatsbürger der DDR kann auf seinen Antrag aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen werden, wenn er seinen Wohnsitz mit Genehmigung der zuständigen staatlichen Organe der DDR außerhalb der DDR hat oder nehmen will. Das geschieht in der Regel nicht vor Erreichen des Rentenalters. Bei Frauen mit Vollendung des 60. Lebensjahrs, bei Männern mit Vollendung des 65. Über die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR ist eine Urkunde auszuhändigen. Bei der Ausreise aus der DDR wird, neben der Urkunde und dem Reisepass, die ausgefüllte Erklärung über mitgeführte Gegenstände und Zahlungsmittel überprüft. Umzugsgut darf mitgenommen werden, soweit dies nach den zollrechtlichen Bestimmungen der DDR zulässig ist. Die Ausfuhr der nachfolgend aufgeführten Gegenstände ist grundsätzlich verboten: Unterwäsche, Strumpfwaren, Kinder- und Babybekleidung, Tapeten und Tapetenklebstoffe, Antiquitäten und Archivgut, Markenporzellan, Pelzwaren, Mandeln und Rosinen. Es sei denn, Bekleidungsstücke und Nahrungsmittel sind für den persönlichen Ge- und Verbrauch während der Reise bestimmt.
    Der Zug steht, und lange passiert nichts. Sie überlegt, ob sie die Dame aufwecken soll. Doch schon wird die Abteiltür

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