Das halbe Haus: Roman (German Edition)
ein müder Marionettenspieler am Werk. Ihre Kinder, die Freunde und Enkelkinder winken lebhaft, bewegen die Unterarme wie Scheibenwischer. Wegen ihrer suchenden Blicke nimmt Polina an, dass sie sie nicht richtig erkennen hinter der Waggonscheibe. Sie winken sich selbst zu, ihrem Spiegelbild.
Der Zug nimmt Fahrt auf, und Frank rennt daneben her, während die anderen zurückbleiben. Er läuft Slalom zwischen den Passanten, winkt und ruft, sie kann ihn nicht verstehen und hat aufgehört zu winken. Am Ende des Bahnsteigs, unter der ORWO -Reklame, bleibt er keuchend stehen, und sie verliert ihn. Der Zug verlässt die Halle.
Sie ist froh, dass es nun geschafft ist. Natürlich hat sie nicht geweint. Sie geht in ihr Abteil, schiebt die Tür zu und lässt sich am Fenster nieder. Oben auf der Ablage sind ihre drei Koffer, die Siegmar und Frank dort verstaut haben. Gegenüber, auf dem anderen Fensterplatz, sitzt eine Dame mit Hut. Die seufzt und sagt: »Es ist doch immer wieder schön, wenn’s zurück nach Hause geht, gell?«
Nach dem ersten Halt kommt der Schaffner. Er lässt die Schiebetür offen stehen, das Rattern im Rücken. Er verbeugt sich vor der Dame, und er verbeugt sich vor Polina. Dann erst kontrolliert er breitbeinig die Reisedokumente und knipst die Fahrscheine. Er schließt die Abteiltür nicht, als er hinausgeht. Polina erhebt sich und macht die Tür zu.
»Kompliment, das ist sehr elegant«, sagt die Dame und deutet auf Polinas Kostüm, nachdem diese wieder Platz genommen hat. »Ist das von Lodenfrey?«
Polina trägt die Salz-und-Pfeffer-Kombination und die grünen Nylonstrümpfe, beides im Exquisit gekauft, denn niemand soll denken, im Osten würden alle in Lumpen herumlaufen. Sie überlegt einen Moment. Dann sagt sie: »Ja.«
»Sehr elegant«, wiederholt die Dame. »Wie lange waren Sie denn zu Besuch?«
Polina legt die Hand auf ihren Hals. »Nur kurz. Meine Kinder leben hier. Und Sie?«
»Eine Woche, herrje. Zum ersten Mal seit Jahren. Ich hab das Geld gar nicht losbekommen. Es kostet alles Pfennigbeträge, und es gibt ja fast nichts. Die Qualität ist so furchtbar schlecht.«
So schlecht ist sie nun auch nicht, will Polina einwenden. Stattdessen sagt sie: »Das Geld lasse ich immer meinen Kindern da.«
Die Dame streicht ihren Rock glatt, Tweed, und schaut aus dem Fenster. Sie trägt eine weiße Bluse mit Jabot. Es ist behaglich warm. »Ich habe nur entfernte Verwandte in der Zone. Einen Cousin meines seligen Mannes.« Aus ihrer Handtasche angelt sie ein Plastiktütchen. »Das ist so ein Hundertprozentiger, es gibt immer Streit.« Sie reißt das Tütchen auf und zupft ein nach Zitrone und Spülmittel riechendes Tüchlein heraus. Damit putzt sie die bläulichen Gläser und die komplizierten Bügel ihrer Brille. »Mein Mann war von hier«, sagt sie. »Sechsundfünfzig ist er weggegangen. Seine Familie hat eine Druckerei besessen. Die Kommunisten haben die Druckerei einfach kassiert und verstaatlicht. Mein Mann sollte in seiner eigenen Firma angestellt werden, führen Sie sich das einmal vor Augen. Alles hat er ihnen gelassen, die Maschinen, das Papierlager, die vollen Auftragsbücher. In Fulda hat er von Grund auf neu angefangen. Am Schluss hatten wir vierzig Mitarbeiter.« Mit dem Brillentuch säubert sie den Klapptisch, zieht drei Klemmen aus dem Haar, lupft ihren Hut und setzt ihn auf den Tisch. »Der Cousin ist jetzt Direktor der Druckerei. Sie haben immer noch dieselben alten Maschinen, das Papier ist rationiert und sieht aus wie fürs Klo. Pardon.« Sie toupiert ihre weißen Haare, holt eine längliche, bronzen schimmernde Dose aus ihrer Handtasche, schüttelt sie, schirmt mit der Hand ihre Augen ab und sprüht einen ätzend riechenden Lack auf ihre Frisur. Dann dreht sie ihren Zuckerwattekopf zum Fenster und sagt: »Es ist doch eine Schande, wie sie alles hier verkommen lassen.«
Einem Reflex folgend, sieht auch Polina aus dem Fenster. Aber sie kann nichts sonderlich Verkommenes sehen. Es ist neblig, sie fahren durch Milch. Ab und zu tauchen Häuser auf, schemenhaft. Komischerweise haben alle Häuser weiße Dächer. Doch nein, die Dächer sind nicht weiß. Es liegt nur Schnee darauf.
Polina knöpft ihre Kostümjacke auf. »Mein Mann war bei der Bahn. Bahnbeamter«, sagt sie. »Ich bekomme eine Witwenrente und darf mein Leben lang kostenlos Bahn fahren, im Westen«, sagt sie. »Ich meine, im Osten muss ich bezahlen.«
»Wo kommen Sie eigentlich her?«, fragt die Dame.
»Wie meinen Sie
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