Das halbe Haus: Roman (German Edition)
gespürt und ist davon aufgewacht. Bis zum Morgengrauen liegt sie wach.
Paul war Eisenbahner. Siegmars Vater. Es gibt ein Foto, darauf beugt er sich aus dem winzigen Fenster eines Stahlungetüms, Mütze schief, Lachen schief, auf der Schnauze des Triebwagens ein Hakenkreuz. Er hat sonst nicht viel gelacht, gab nicht viel für ihn zu lachen. In seinem Namen wird sie drüben eine Witwenrente beziehen, und sie darf umsonst Zug fahren, solange sie lebt.
Mit vier ist sie das erste Mal Zug gefahren, als sie fliehen mussten. Tati war im Ersten Weltkrieg Soldat bei den Deutschen gewesen, bei den Unseren, danach war nicht mehr gut leben in der alten Heimat. In einem Viehwaggon sind sie nach Sibirien gerollt. Ihre Hand passte zwischen die Bohlen, und unten zog der graue Kiesfluss dahin, der rauschte. Einmal hielt der Zug und stand ewig still, ohne dass die Türen geöffnet wurden. Fenster gab es keine. Sie musste durch die Ritzen machen, und ein Mann aus ihrem Dorf wurde verrückt. Er fing an zu schreien und zu toben. »Jetzt blasen sie uns die Lichter aus«, schrie er, »die Russen«, und polterte gegen die Wände. Sie durften aber nach Hause zurückkehren, für ein paar Jahre, dann ging alles von vorn los.
Dass sie je wieder nach Osten fahren würde, hätte sie nie gedacht, aber vor fünf Jahren war Heuroth, ihr Abteilungsleiter bei der Post, gekommen und hatte gesagt, ihr stehe die Auszeichnung zu, so kurz vor der Rente: eine Woche Moskau. »Völkerverständigung, Kultur und ä bisschen Amüsemang.« Sie waren vier Frauen in einem Schlafabteil. Weil das Klopapier in der Ruhmreichen knapp war, hatte jede sechs Rollen dabei. Der Tschai aus dem Samowar der Waggonschaffnerin kostete fünfzig Pfennige, mit Schuss eine Mark. Beim nächtlichen Radwechsel in Brest schrak sie zurück, als unter ihrem Fenster das Augenweiß der Monteure aufblitzte. Als der Zug weiterfuhr, spuckte sie in den schwarzen Fluss, das sollte Glück bringen. In Smolensk stiefelte ein Trupp Rotarmisten durch die Waggons, Gewehre mit Trommelmagazin, niemand wusste, was sie suchten. Sie standen zwei Stunden. Dann fuhr der Zug wieder, Birken flogen vorbei, grüne Kupferdächer und bunte Zwiebeltürme, die verrottenden Fassaden mit der schönen kyrillischen Schrift. Sie konnte alles lesen und verstand alles. Auf einem kahlen Feld zeigte eine große weiße Rakete mit roter Nase in den Himmel, ein blaues Gitterchen umzäunte sie. CCCP stand auf der Rakete. Zu viert sangen sie: »Hoch auf dem gelben Wagen«. Und: »Das Wandern ist des Müllers Lust«. Dann kamen Häuser und Straßen, Signalmasten salutierten, und ein Delta aus Gleisen und Weichen fächerte sich auf und verengte sich zur Mündungsstunde hin. Die Waggonschaffnerin schlug gegen die Tür und rief, dass sie nun Moskau erreicht hätten. Als sie in den Belorussischen Bahnhof einfuhren, pochte ihr Herz. Sie spähte aus dem Fenster. Draußen auf dem Bahnsteig stellte sie sich auf die Zehenspitzen und hielt Ausschau. Allen Ernstes glaubte sie, dass er sie empfangen würde, dass er auf sie wartete, stattlich und groß, mit dunklem Haar, blitzend blauen Augen, diesem unverschämten Lachen. Sie wusste nicht, warum sie dergleichen glaubte, warum sie solch einen Unsinn denken konnte, aber sie hielt Ausschau. Doch plötzlich fiel ihr etwas ein, und sie stellte sich wieder auf ihre Fersen. Ihre Zähne waren nicht mehr echt. Sie war überzeugt, dass ihm dies sofort ersichtlich wäre: wie sich durch den falschen Gaumen und die falschen Zähne der Mund verändert hatte. Ihr Mund war ihr mit einem Mal selbst ganz fremd. Sie würde sich schämen, ihn zu küssen. So machte sie sich klein und hoffte, dass er sie übersah, obwohl er ja gar nicht da war.
Das war ihre letzte Bahnfahrt gewesen, und heute wird sie wieder in einen Zug steigen. Die Fenster der Stube sind blind. Der Geruch von Bratenfett und Zigarettenqualm klebt an den Gardinen, an den Polstern. Sie steht auf, zieht das Sofa ab, klappt es hoch, faltet das Bettzeug und legt es in den Schrank. Sie streift ihren Morgenmantel über, den sie ganz am Schluss noch in einen der drei Koffer packen will, schlüpft in die Hausschuhe und geht zum Ofen. Sie rüttelt die Asche in den Kasten, bis nur noch ein glühender Kern auf dem Gitterrost liegt. Darauf schichtet sie drei Briketts, verschließt die obere Klappe, zieht den Aschekasten aus dem unteren Fach und leert ihn vorsichtig in den Zinkeimer. Sie schiebt den Kasten zurück und lässt die untere Tür einen Spalt
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