Das halbe Haus: Roman (German Edition)
mit einem Fischmesser umgeht und wofür die dritte Gabel benutzt wird. Dennoch will sie sich nicht schon wieder blamieren.
Kürzlich traf sie im Kupsch auf eine junge Frau mit geschwungener Haube, blauer Schürze und Holzschuhen. Diese stellte sich ihr als Frau Antje vor und bot ihr an, von ihrem leckeren Käse zu probieren. Sie aber lehnte ab und sagte, dass sie gern den Nachnamen der Dame wissen wolle. Sie selbst heiße Polina Winter und wohne in der Prinzregentenstraße eins, gleich dort, jenseits der Ringstraße, hoch oben im zwölften Stock von diesem Hochhaus da. Die Frau schaute verblüfft und fragte, ob die Kundin jetzt probieren wolle oder nicht. – Erst wolle sie wissen, wie ihr Gegenüber denn nun heiße, beharrte Polina. – Frau Antje, das sei ihr Name, sagte die junge Frau hart. – Sie werde doch gewiss einen Nachnamen haben, setzte Polina nach. – Sie verkaufe hier nur Käse, Kaas, und sie heiße Frau Antje. Sie komme aus Holland, um Kaas unter die Moffen zu bringen, sagte sie. Polina fand, dass die junge Frau recht ungehalten reagierte. Gerade als sie dies beklagen wollte, wurde sie von einer kleinen Hand berührt. Die schiefe Dame aus dem siebten nahm sie beiseite und erklärte ihr im pommerschen Dialekt, dass jene Frau Antje eine ausgedachte Frau sei, also eine von der Werbung ausgedachte und keine echte Person. So wie die mit dem Waschmittel nicht wirklich Klementine heiße, sondern anders. In der Werbung gebe es viele ausgedachte Frauen. Meine Güte, wie war ihr das peinlich. Tagelang mied sie die schiefe Dame und den Kupsch und ging stattdessen zum Seifert in die Innenstadt. Sie hatte Jakob das Lesen beigebracht, indem sie die Dinge beschriftete. Jetzt bräuchte sie jemanden, der das für sie tat: die neue Welt beschriften. Als die holländische Woche vorüber und die ausgedachte Frau verschwunden war, traute sie sich wieder in den Supermarkt, wo die italienische Woche begangen wurde.
Vor dem Schweizerhof nimmt ein Page den Autoschlüssel entgegen und fährt den Jaguar in die Tiefgarage. Zwei lange, schmale Fahnen hängen vom Sims des Stuckbaus, eine trägt die bayerischen Rauten, die andere das Schweizer Kreuz. Im Foyer ist ein großes Aquarium in die Wand eingelassen, in dem ein Dutzend Fische treibt. »Heute fangfrischer Fisch« steht auf einer Schiefertafel. Zwei geschwungene Treppen führen ins Restaurant. Der Speisesaal ist gähnend leer. Schwere Vorhänge rahmen die hohen Fenster. Über eingedeckten Tischen schweben Kristalllüster, aus dem Nichts kommt leise Musik. Der Teppich ist weich wie Moos. Plötzlich klappt eine Tapetentür auf, und eine Dame mit komplizierten Haaren und kompliziertem Schmuck betritt den Saal. »Hermann«, sagt sie, »es ist hohe Zeit. Drüben am Dreier wird serviert.«
»Ich habe jemanden mitgebracht. Fräulein Paulina Winter.«
»Ich lasse ein Gedeck mehr auflegen«, sagt sie und geht wieder in die Wand.
»Meine Schwester«, sagt Hermann.
Das Essen wird von drei Frauen mit Hauben und Schürzen gebracht, die jedes Mal ansagen, was sie auftun. Zuerst gibt es ein Schaumsüppchen, dann irgendein Gemüse mit irgendwelchen Körnern und mildem Schafskäse (immer das Schaf). Das Hauptgericht ist Spargel aus der Gegend mit neuen Kartoffeln und zweierlei holländischer Sauce. Dazu gibt es einen Silvaner aus dem Bürgerspital. Leise spielt die Musik, und das Besteck klimpert. Die Schwester, deren Alter schwer zu schätzen ist, hat sich ihr weder vorgestellt, noch richtet sie ein einziges Wort an sie. Nur einmal fragt sie Hermann, ob er Finja Bescheid gesagt habe, was er bejaht.
Dann entsteht Unruhe. Von irgendwo kommen Rufe. Im Duett werden Parolen skandiert, mit hellen Spitzen und dunkleren Enden. Eine Demonstration, denkt Polina, eine sehr kleine Demonstration.
Die Schwester läuft zur Balustrade. »Der Karl«, ruft sie nach hinten, »und die Tochter vom Sartorius. Ein Fotograf vom Boten ist auch da. Hermann, tu was.«
Der Name Sartorius kommt Polina bekannt vor.
Die Schwester beugt sich nach vorn. »Ja, spinnt ihr jetzt völlig, Karl?«, ruft sie nach unten.
Polina und Hermann gehen zu ihr und erblicken einen schmalen, hochgewachsenen jungen Mann mit langen Haaren und ein schönes blondes Mädchen mit dunklen Augen und Augenbrauen, das sehr zornig wirkt. Der junge Mann, Karl, auch. Sie rufen: »Freiheit den Fischen – auf euren Tischen – keine geschundnen – Forellen und Flundern!« Sie stehen im Foyer, tragen Jeans, Regenbogenshirts,
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