Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und der Erregung öffentlichen Ärgernisses. Sie wollen den Hammer und den Eimer mit den Karpfen sicherstellen. »Sobald wie möglich erhalten Sie die Karpfen zurück.« Doch Hermanns Schwester sagt, es sei zu bezweifeln, dass man die Karpfen noch verzehren könne. Sie wolle die traumatisierten Viecher nicht zurückhaben, sie habe einen kulinarischen Ruf zu verlieren. Wer von den beiden überhaupt das Aquarium zerstört habe, will ein Polizist wissen. »Ich«, sagt der junge Mann, dennoch muss auch das Mädchen mit auf die Wache. Polina denkt an ihre sorbischen Ostereier, die sie natürlich nicht zurückerhalten hat. Sie denkt an die Fahndungsfotos von den Terroristen auf dem Itzer Postamt. Sie denkt, wie mutig von diesen beiden jungen Menschen. Sie denkt, Fische sind zum Essen da. Sie denkt, ich muss los, wegen Franks Sache. Doch Hermann sagt, so könne man den Tag nicht ausklingen lassen.
Er schiebt den schweren Filzvorhang beiseite. Es riecht schal und feucht. Aus dem Kassenverschlag holt er eine Taschenlampe und einen dicken Schlüsselbund, der Teppich hat Brandlöcher. Der Saal ist größer, als es die schmale Tür vermuten lässt. Lichtkegel liegen auf den Tapeten, grüne Notschilder schimmern am Beginn der Sitzreihen. Er geleitet sie in die erste Reihe, klappt einen Sitz für sie herunter und verschwindet ins Dunkel. In der Tiefe des Kinos leuchten zwei Fensterchen auf, es rumort im Vorführraum. Dann schwindet das Wandlicht, und der Vorhang geht auf.
Orgelmusik ertönt, Baumgrün fliegt herbei, und auf dem Stamm einer Birke erscheint der Titel: »Grün ist die Heide«. Geigenmusik. Die Schauspieler sind Sonja Ziemann, Rudolf Prack, Willy Fritsch und der fesche Hans Stüwe, den sie für immer und ewig als Architekt Fürbringer im »Tiger von Eschnapur« in Erinnerung behalten wird. Hermann kommt zurück und setzt sich neben sie. In verschossenem Agfacolor lächelt er sie an, sie lächelt verschossen zurück.
Das Bild geht auf, und drei Musikanten treiben eine Schafherde auseinander, valeri, valera, mal wieder Schafe. Sie kommen zum Haus des Oberförsters, der ihnen seinen Nachfolger vorstellt: Hans Stüwe. Dieser reicht ihnen Rauchzeug, nur Tünnes kriegt nichts ab, wegen seines schwachen Herzens. Vom Oberförster bekommen sie wie immer ein Essenspaket. »Vielen Dank, Herr Oberförster, nächsten Dienstag um fünf sind wir wieder da«, sagt der rote Hannes, gespielt von Hans Richter, der auch in der »Feuerzangenbowle« und im »Wirtshaus im Spessart« dabei ist. – »Es kann auch sechs werden«, sagt Tünnes. Hannes gibt ihm einen Klaps und sagt: »Es bleibt bei fünf. Ordnung muss sein.«
Polina beugt sich zu Hermann. »Bitte geben Sie mir Bescheid, wenn es drei ist? Wegen des Rot-Kreuz-Termins.«
»Aber ja, Paulina«, flüstert Hermann, als wären sie nicht allein.
Sie lehnt sich zurück und betrachtet Hans Stüwe, dem das Förstergrün sehr gut steht, und Sonja Ziemann, der das dunkellila Kleid mit dem gelben Gürtel auch sehr gut steht. Auf den leeren Sitzen in ihrem Rücken nehmen ihre Schwestern und ihr Bruder Platz, die kleine Anneliese, Betty, Martha, Arthur, auch Tati und Mama sind da, in Sonntagskleidung. Er kommt etwas zu spät. Seine Uniformmütze sitzt fesch auf dem Kopf, er nimmt sie ab. Die Platzanweiserin zeigt ihm mit der Taschenlampe den Weg, beleuchtet den Platz neben ihr. Er nimmt ihre Hand. Mit der anderen klopft er eine Zigarette aus dem Etui. Der Film beginnt. Ein Eichhörnchen klettert über einen Ast, es ist kein Farbfilm. Er sagt: »Armes Deutschland, wenn eure Füchse so klein sind.« Alle lachen, ihre Geschwister, ihre Eltern, niemand ist tot. Sie hat den schönsten, schlauesten und witzigsten Mann. Rechts neben ihr sitzt Liesl und schweigt. Liesl ist immer dabei, wenn es gilt. So auch in jenem Nachkriegssommer.
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Ungebührlich warm ist es im Juni 1947. Wie Achtelnoten sitzen die Schwalben auf den Stromleitungen. Frank ist ein Stolperchen mit blauen Flecken und Schrammen, gerade ein Jahr alt. Nur einmal hat er für ihn Klavier gespielt, bevor er gehen musste. Da war der Junge noch in ihrem Bauch.
Nicht mehr als drei Waggons hat der Zug, der sie nach Berlin bringen soll. Frauen mit Koffern und Paketen drängen hinein. Viele müssen auf dem Gleis zurückbleiben. Einige klettern durch die Fenster, Unterröcke werden sichtbar, Kohlestriche auf den Waden sollen Strumpfnähte vorgaukeln. Sie trägt einen weißen Rock mit roten Kerzen,
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