Das halbe Haus: Roman (German Edition)
vormals die Weihnachtstischdecke. Ihre Schuhe sind mit Reifengummi besohlt, ihr Haar ist mit Rübensirup gefestigt. Die Menschen quetschen sich in die Gänge wie Heringe im Fass. So riecht es auch. Nur im abgeschirmten Militärwaggon gibt es noch freie Plätze. Es ist ein ehemaliger Speisewagen der Ersten Klasse, mit Vorhängen und Lampen auf den Tischen. Zwei junge russische Offiziere lümmeln in den Samtpolstern. Einer trägt den Rotbanner-Orden und die Medaille eines Verteidigers von Stalingrad. Liesl sagt es ihr. Ein Jahr lang hat sie geschlafen. Seit sie wieder wach ist, studiert sie alle Dienstgrade, Orden und Medaillen. Auf Russisch sagt Polina zu den beiden Leutnants, man solle ihnen einen Platz geben, alles sei frei. Weil sie jung und hübsch sind, dürfen sie eintreten, trotz des Kindes. Schimpfend bleiben die älteren Frauen zurück. Polina spricht auf Liesl ein, sagt, sie habe nichts zu befürchten.
Hinter offenen Fenstern bauschen sich die Vorhänge. Das Korn auf den Feldern gedeiht, es wird nicht genügend Hände geben, um es zu ernten. Frank stolpert durch den Gang, er wirft die Beine in die Höhe und schlenkert mit den Armen. Die Offiziere locken ihn mit Eiern, die sie auf dem Tisch pellen. Buratino nennen sie ihn. Er stößt sich, verzieht das Gesicht, lacht, läuft weiter. Wie eine Amme springt Liesl dem früh entwickelten Kind nach und zieht es zurück auf ihr Polster, von dem der Knabe sofort wieder abgleitet. Die Offiziere schließen die Fenster und trinken aus Feldflaschen. Sie ziehen sich an den Ohrläppchen, bis einer aufgibt. Sie stoßen an. Liesl lehnt sich nicht ans Polster.
Nach dem Spreewald sind sie müde und dösen, Polina auch. Nur Liesl und das Kind halten nicht still. Wie aufgezogen stolpert Frank durch den Gang. Dann kreischen die Bremsen, es tut einen Schlag, und das Kind fliegt durch das Abteil, als hätte ein böser Puppenspieler seine Hand im Spiel. Polinas Kopf ist nach hinten gerissen worden, sie sieht ihn nicht, den Sohn, hört nur sein Wimmern. Unter einem Sitz ziehen sie ihn hervor, die Beule auf seiner Stirn wächst wie ein Hefekloß im Dampf. Die Russen setzen sich die Mützen auf, bürsten die Eierschalen von ihren Röcken und fluchen. Liesl wiegt Frank, und Polina zieht das Fenster auf. Ein beizender Gestank schlägt ihr entgegen: Fäkalien, verkohltes Fleisch und Blut. Sie weiß, wie verkohltes Fleisch riecht. Das Fensterglas ist rot und gelb gesprenkelt vom Pferdeblut und Pferdehirn. Das Tier liegt einige Hundert Schritt hinter ihnen im Graben. Während Liesl dem weinenden und strampelnden Frank ihren kühlen Taschenspiegel auf die Stirn presst, stemmt Polina die Waggontür auf und springt ins Gleisbett. Wo gehst du hin, ruft Liesl und folgt mit dem Kind.
Der Zug steht zwischen saftigen Weiden. Die Front der Diesellok ist von Fell, Blut und Fleisch verklebt. Eine dunkle Wolke Fliegen hat sich eingefunden, Grillen zirpen. Oben in der Lok rührt sich nichts. Sie steigt auf den Tritt, zerrt an der Tür und kann sie nicht öffnen. Auf knisterndem Kies rennt sie zurück und ruft die Russen herbei. »Dawaj, dawaj.« Die Kerle folgen ihr wie dressierte Bären. Mit vereinten Kräften öffnen sie die Tür. Den blutigen Kopf auf dem Pult, liegt der Lokführer da. Es dauert zwei Stunden, bis ein anderer auf einer Lore herbeigefahren kommt.
Währenddessen dringt der Gestank durch Ritzen und Spalten, und die Russen trinken weiter. Der eine steht auf und verliert die Hose, der andere macht ihm die Hosenträger fest. So geht es hin und her. Frank lächelt schief, und Liesl lehnt sich nicht an. Endlich kann die Fahrt fortgesetzt werden. Liesl und Polina gegenüber sitzen das verbeulte Kind und der verbeulte Lokführer. Der Lokführer trägt einen Mullverband. Er sagt danke und seinen Namen: Paul Winter. Dann kommen Schrebergärten, zertrümmerte Fabriken, Bahnsteige mit unzähligen Menschen. Berlin ist zu spüren wie ein kühler Keller.
Die Russen reißen die Fenster auf und spucken auf die Stadt. Sie recken die Fäuste in den Fahrtwind und brüllen: »Kaput. Fritz kaput.« Im Schritttempo fahren sie durch den Schlesischen Bahnhof und weiter zum Alexanderplatz. Schon vom Zug aus sehen sie den Schwarzmarkt. Bevor sie in die S-Bahn umsteigen, bittet der Lokführer um Polinas Adresse. Er sieht sie an.
Die S-Bahn klettert auf Brücken, wo Bahnhöfe auf sie warten, über die sich dunkle Hängedächer spannen. Die Ruinen sind hässlich. Oft fehlen die Fassaden, wie bei einem
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