Das halbe Haus: Roman (German Edition)
liest eine nach der anderen und merkt, wie ihm das Blut in den Kopf schießt.
»Bitte entschuldige«, sagt sie.
»Auf keinen Fall«, sagt er, »auf keinen Fall mache ich mich zum Affen und tanze da an.« Er schleudert die Karten fort.
»Wir wollten dir doch nur helfen. Du bist so unglücklich in letzter Zeit.«
»Ich bin überhaupt nicht unglücklich. Es geht mir prima. Und ich möchte selbst entscheiden, wen ich treffe.«
»Versuch es doch wenigstens«, sagt sie. »Fahr morgen hin und guck sie dir heimlich an. Wenn sie dir nicht gefällt, kannst du dich immer noch aus dem Staub machen.«
»Ausgeschlossen. Ich mach das nicht. Außerdem ist morgen Schule.«
»Nein«, sagt sie, »morgen ist doch Tag der Befreiung.«
Er stellt Milch, Brot und Butter auf den Küchentisch. Er weiß genau, dass er nicht hinfahren wird. Wie einen Patienten haben sie ihn behandelt, wie einen Unmündigen. In ihren Augen ist er jemand, der den Kuchen allein nicht gebacken kriegt, einer, der durch die Gärten schnürt und von allen Früchten frisst, ohne welche zu ziehen. Massive Vorurteile. Als würden ihn die paar Daten und Stichworte auch nur im Ansatz beschreiben. Jeder Mensch ist ein Rätsel, für die andern und sich selbst. Jeder Mensch erlebt sich als ein blaues Wunder, da langt es nicht, ein paar Formeln zu basteln. Und wie unverfroren sie sein Schicksal in den Mund genommen haben, als wär’s eine Anekdote. Andererseits: Wie würde er es denn formulieren, sein Schicksal, wenn er es versuchte? Er hat es eben noch nie versucht. Doch so würde er es nicht anstellen. Gut, die Informationen sind nicht falsch, er hat sie auf die eine oder andere Weise auf die Frauen verteilt. Mit der Spohn hat er mal über Architektur gesprochen und gesagt, dass er das Haus über dem Wasserfall liebe. In einer wirklich schwachen Stunde hat er Monika das mit der Paella gestanden, und mit Inge hat er den dicken Schinken gelesen. Sie hasst ihn noch immer, obwohl bloß die Chemie zwischen ihnen nicht stimmte, was sie von Berufs wegen doch begreifen muss. Aufgrund ihres eigenen Schicksals glaubt Anita seines zu verstehen, und die beiden anderen wissen auch irgendwas von ihm. Er wird beobachtet und bewertet. Das, was er diesen Frauen einzeln offenbart und dann vergessen hat, haben sie wieder zusammengesetzt, ein seltsames Mosaik. Mehr haben sie eigentlich nicht getan. Und so steht er nun in diesem Kuppelheftchen, zusammengepuzzelt. Über zweihundert Zuschriften, hat Anita gesagt. Das ist gar nicht mal übel. Gern würde er die anderen Briefchen und Fotos einmal sehen, um zu überprüfen, was er wert ist. Muss aber nicht sein. Was diese Eva schrieb, das ist nicht schlecht. Genau genommen gefällt es ihm sehr. Und jetzt mal ehrlich: Was er selbst schrieb, also was die Frauen in seinem Namen geschrieben haben, das gefällt ihm auch. Trotzdem: Fahren wird er nicht.
Er schneidet Brot auf und stellt Teller auf den Tisch. Als Jakob vom Training heimkommt, brät er ihm drei Eier. In letzter Zeit futtert der Junge wie ein Scheunendrescher. Er sieht kantig aus, nicht mehr wie ein Kind. »Ich habe das Gefühl, du wächst«, sagt Frank. »Stell dich doch mal an den Türpfosten zum Messen. Den letzten Strich hat Oma vor einem halben Jahr gemacht.«
»Kein’ Bock«, sagt Jakob und kleistert Butter auf seine Schnitte.
»Morgen oder am Sonntag, hast du da einen Wettkampf? Ich würde gern mal wieder zuschauen.«
»Nee, Wochenende ist frei. Regeneration.«
»Wann ist eigentlich dieser große Wettkampf?«
»Welchen meinst du?«
»Dieses Sichtungsding.«
»Ist noch Zeit. Am 20. Juni.«
»Vielleicht schickt Omi bis dahin die Spikes«, sagt Frank.
»Hm«, macht Jakob.
»Sag mal, schreibst du noch?«
»Hm.«
»Brauchst du nicht bald ein neues Heft?«
»Ist noch Platz.«
»Wir sollten mit Theo mal wieder zum Tierarzt gehen. Können wir doch morgen machen, wenn du keinen Wettkampf hast.«
»Der ist abgehauen.«
»Der Tierarzt?«
»Theo.«
»Seit wann?«
»Vorgestern oder so.«
»Und das sagst du mir erst jetzt?«
»Na, du wohnst doch auch hier. Außerdem kommt der schon wieder. Er ist nur grade geil.«
»Bitte?«
»’tschuldigung. Er ist auf Brautschau.«
Jakob merkt, dass Frank merkt, dass da ein »auch« in der Luft liegt. »Kann ich nach oben?«
»Ja, klar«, sagt Frank. »Morgen schlafen wir mal richtig aus, und dann mach ich uns ein festliches Frühstück. Anlässlich der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus durch die Rote
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