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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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übertriebenem Kniehub. Um sich zu stoppen, muss er seinen Körper abfangen, muss sich gegen den Kraftschub stemmen, den er selbst erzeugt hat. Kraft ist gleich Masse mal Beschleunigung. Es gibt Körperbegabungen, Muskeltalente, Durchblutungs- und Kontraktionswunder, da kannst du trainieren, wie du willst, der eine hat’s, der andere nicht, Kupfer hat’s: breites Kreuz, lange, kräftige Beine und Arme wie Taue. Er ist der goldene Schnitt, er springt aus dem Stand über sein Fahrrad (zwei Außenspiegel), er wackelt nicht, wenn er zwei gackernde Hühner spazieren fährt, eins auf der Stange, eins auf dem Gepäckträger.
    Kupfer zeigt sein Zahnlachen, während er hinter die Startblöcke steigt und zwei-, dreimal den Kopf kreisen lässt. Die anderen schlenkern ihre Glieder, hüpfen auf der Stelle und pumpen sich voll Luft, denn die wird bald knapp werden.
    »Verwarnung für Bahn vier, das nächste Mal ist das ein Fehlstart«, sagt der Kampfrichter zu Kupfer.
    »Was hab ich denn gemacht?«, sagt Kupfer über die Schulter.
    »Lass einfach die Sperenzchen, Sportsfreund.«
    »Der Straßenbahner hat gezuckt«, sagt Kupfer und nickt in Jakobs Richtung. »Mit Absicht.«
    »Wenn du glaubst, heute geht es nur um Leistung, dann bist du schief gewickelt«, sagt der Kampfrichter. »Die da vorn schauen nicht nur auf Zeit und Weite, die schauen dich ganz an. Wie du dich beträgst, ob du ein fairer Sportsmann bist, wie du mit Niederlagen umgehst, diese Sachen.«
    »Was war das gleich noch mal: Niederlagen?«, sagt Kupfer, doch keiner lacht mit.
    Am Ziel stehen zwei Fremde. Eine hagere Frau mit blondem Bubikopf und Turnschuhen und ein Mann mit Strohhut und Mao-Anzug. Sie haben ihre Klemmbretter zwischen die Knie gesteckt, um die Zeiten stoppen zu können. Die regulären Kampfrichter verwenden mechanische Stoppuhren, die wie Silbermedaillen um ihre Hälse hängen, die Fremden messen die Zeit elektronisch, mit kleinen schwarzen Gehäusen. Nach jedem Wettbewerb werden sie ihre Ergebnisse und ihre Beobachtungen notieren. Möglicherweise werden sie die Dinge ganz anders bewerten als die Regulären, mit denen sie jetzt gemeinsam auf das Startsignal warten. Die Zeit muss anbrechen und losrennen, sobald die Hölzer aufeinandertreffen – wenn man es sieht , nicht erst, wenn man es hört .
    »Auf. Die. Plätze.« Der Kampfrichter schlägt das Brett wieder auf, und die acht Jungen kauern sich ein zweites Mal in die Blöcke. Diesmal hält Kupfer das Maul. Während die anderen ihr Kinn auf die Brust senken, richtet er die Augen zum Ziel.
    Jakob ist sein Nachbar. Er ist Kupfer näher als sich selbst, das ist ein Problem. Jakob lässt seinen Blick wandern. Er sieht den Trainer, der seine eigene Stoppuhr in der Hand hält. Der Wind hebt die tabakfarbenen Strähnen, welche die Trainerglatze tarnen sollen, mit spitzen Fingern an. Der Wind bewegt die Fahnen, fasst in die Pappeln, geht über den grünen Wall, der die Nordanlage umringt, zupft an Jakobs Startnummer und haucht seine Stirn an. Es ist kein Rücken- oder Seitenwind, es ist ein Gegenwind, der vom großen Stadion auf die kleine Anlage herabfällt.
    Flutlichtmasten überragen den Steinkessel, der selbst alles überragt und hunderttausend Menschen fassen kann. Als Lok dort im März gegen Barcelona spielte, hatte Mo zwei Karten besorgt, aber Vater war krank, sodass Jakob das Stadion weiter nur von außen kennt. Vater ist nun wieder gesund. Er und sie müssen ausschlafen. Wer setzt diese Wettkämpfe immer so scheißfrüh an?
    Gestern war die Lady mit ihrer Tochter angereist, und sie hatten Vaters Geburtstag nachgefeiert. Vater hatte im Puschkin einen Tisch bestellt, der schon eingedeckt war, als sie eine Viertelstunde zu früh eintrafen. Dennoch wollte der Ober sie nicht an ihren Platz führen. Die Reservierung sei für Punkt sieben, hatte der dünne Mann, auf dessen Kehle ein schwarzer Falter saß, gesagt. Normalerweise hätte der Vater getobt, hätte eine flammende Rede über die menschenverachtende Gastronomie im Sozialismus gehalten, die ein Beweis für die Verkommenheit des gesamten Saftladens sei, und dann hätte es Lokalverbot und Sodbrennen und drückendes Schweigen gegeben. Gestern aber drehte er sich bloß lächelnd zu seiner Lady und sagte: »How funny!«
    Die Lady lächelte zurück und antwortete: »O Lord, make my enemies ridiculous. And God granted it.«
    Hinterm Rücken der beiden steckte sich ihre Tochter den Finger in den Hals und verdrehte die Augen, was ihn zum Lachen

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