Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Geist Georgi Dimitroffs, dessen hundertsten Geburtstag wir vorgestern mit einer beeindruckenden Großkundgebung vor neunzigtausend friedliebenden Menschen feiern konnten. Neunzigtausend, so viele Menschen und mehr passen auch in dieses moderne Stadion, das Arbeiter und Ingenieure für euch, die Enkel Georgi Dimitroffs, erbaut haben. Für euch und eure Zukunft hat er gekämpft, der ein überzeugendes Beispiel für Mut und Unerschrockenheit war, der von den Idealen des Sozialismus durchdrungen war und wusste, dass der Sozialismus seinen Siegeszug einst vollenden wird.«
»Danke, Opa«, sagt einer von Empor.
Gustav Kronow schwenkt seinen Kopf reihauf, reihab, sodass ihn jeder versteht. »Ihr seid einmal um die Welt gerannt, um diese Startlinie zu erreichen. Jetzt liegen nur noch achthundert Meter vor euch. Für manche ist der Weg nach diesem Rennen zu Ende. Doch wer sich hier und heute als würdig erweist, wird noch viele Siege für unsere Heimat erringen dürfen und den Beweis erbringen, dass der Sozialismus seinen Siegeszug um die Welt fortsetzt. Im Namen Georgi Dimitroffs rufe ich euch zu: Sport frei!«
Wenige murmeln »Sport frei« zurück. Selbst Kupfer, der als Führender ganz innen steht, antwortet nicht. Als Zweitplatzierter steht Jakob direkt neben ihm. Nach vier Disziplinen hat er fünfzehn Punkte Rückstand, das sind sieben Sekunden, das sind fünfundzwanzig Meter. Er blickt zu seinem Vater, der das Kinn reckt, zu seinem Trainer, der sich an der Zweihundert-Meter-Marke aufgestellt hat, um ihm und seinen Kameraden die Zwischenzeiten durchzugeben.
Er selbst trägt Mos Stoppuhr, deren digitale Nullen darauf warten loszupurzeln, um dann nach achthundert Metern wieder zu gefrieren. Kupfer ist ein Zwei-Dreißig-Läufer, er ist ein Zwei-Vierzig-Läufer. Normalerweise nimmt ihm Kupfer vierzig Meter ab. Das ist die Lage. Zum zweiten Mal an diesem Tag kann er nicht schlucken.
Einer der regulären Kampfrichter geht die gebogene Startlinie ab und kontrolliert, dass keiner der drei Dutzend Jungs übergetreten ist. Er sagt: »Als erfahrene Wettkämpfer wisst ihr: Es gibt nur ein Kommando und dann den Startschuss. Zwei Runden, zur letzten die Glocke.« Er hebt ein weißes Fähnchen.
Der Mann mit dem Strohhut hält eine Pistole in den Himmel und sagt: »Auf. Die. Plätze.« Die Jungen machen einen kleinen Ausfallschritt und beugen sich über die Linie, hinter der ein Wasserfall in die Tiefe tost. Er hätte sich gern von Leo verabschiedet, doch die hat einfach die Biege gemacht.
Als der Schuss fällt, weiß er für den Bruchteil einer Sekunde nicht, wo er ist. Doch dann drückt er den Knopf an seiner Uhr und springt.
Das weinrote Hemd führt die Karawane an, und der bisherige Zweitplatzierte im weiß-blauen Trikot ist ihm auf den Fersen. Gut aufpassen, sagt er sich, dem Roten nicht in die Hacken treten. Ruhig atmen, wer muss schon schlucken, den Roten irgendwie vergessen, locker in die erste Kurve schwimmen. Und wenn die von der Außenbahn nach innen fließen: keine Rempeleien. Nicht verhakeln, zweite oder dritte Stelle behaupten, Teil der Karawane bleiben.
Locker läuft er durch die erste Kurve und hebt die Neigung auf, als er auf die Gegengerade biegt. Er hört die Spikes, die am Tartan reißen, als würde der Kater seine Krallen schärfen. Es läuft sich gut auf Tartan.
Das Stadion ist eine Steingutschale, von der Sonne geweißt. Die paar Menschen, die sich darin verlieren, sehen klein aus. Sie werfen kleine Schatten. Es geht kein Wind, über der Bahn spiegelt die Luft. Die Flutlichtträger sehen aus, als ob sie ein Kind aus einem Metallbaukasten zusammengeschraubt hätte. Oben in der Nordtribüne steht die dunkle Anzeigetafel mit der Uhr. Es ist halb vier nachmittags. Spätestens Viertel nach fünf müssen sie zu Hause sein, da spielt die BRD gegen Chile, Deutschland gegen Chile.
In der Gegenkurve wartet der Trainer und blickt von seiner Uhr zu den Läufern und zurück. Als die Karawane an ihm vorüberzieht, sagt er: »Fünfunddreißig, sechsunddreißig, siebenunddreißig. Zu schnell.«
Zu Beginn der Zielgeraden schiebt sich Krüger neben ihn. Er ist einen Kopf kleiner und braun gebrannt und hat tiefschwarzes Haar. Trikot und Hose flattern an ihm. Er kann unter zwei zwanzig laufen und wird dieses Rennen gewinnen. Bevor er antritt, sagt er zur Seite: »Hopp!« Mehr sagt er nicht. Es steckt so viel Aufmunterung in diesem »Hopp!«, dass ihm die nächsten Schritte leichtfallen. Ohne Wind.
Weil sie Schiss hat,
Weitere Kostenlose Bücher