Das halbe Haus: Roman (German Edition)
sagte er. »Aber wir müssen still wünschen.«
Der Mann mit dem Strohhut schlägt die Glocke zur letzten Runde. Du hörst es nicht, du siehst es nur. Ein Kampfrichter ruft die Zeiten herein, hörst du auch nicht. Deine Uhr zeigt 01 : 12,05 an. So schnell bist du die ersten Vierhundert noch nie gelaufen. Du siehst den Trainer, er schreit dir was zu. Seine Haare sind verrutscht, es sieht lustig aus. Er macht eine Schwimmbewegung. Irgendwo muss auch dein Vater sein.
Dann verlierst du deine Beine. Bei fünfhundert, so früh schon. Du kannst sie nicht mehr heben, die Milchsäure frisst sich die Oberschenkel hoch und blockiert die Muskeln. Deine Beine sind Knete, seine nicht. Der Rote trommelt weiter. Sein Kopf sitzt gerade auf dem Hals, deiner wackelt.
Wo bleibt der Wind? Und warum ist sie einfach abgehauen? Das hier ist doch Krieg. Aber sie ist weg, so wie deine Mutter weg ist. Du bist allein und rennst in die schwarze Einsamkeit. Dein Nacken ist zerfetzt, deine Schultern sind gerissen, und aus deinen Armen weicht das Blut: Du stirbst.
Doch plötzlich bist du nicht mehr allein. Jemand spricht dir zu. Fürsorglich fragt dieser Jemand: Junge, warum tust du dir das an? Sag mal? Musst doch nicht sterben, Jungejunge. Kannst doch ein Päuschen machen beim Sterben. He, dein Schnürsenkel ist locker. Die Westschuhe sind nicht eingelaufen, ist alles viel zu neu, zu frisch. Musst den Schnürsenkel festzurren, bevor du stolperst und hinschlägst. Was hast du denn dann gewonnen? Rein gar nichts. Rhabarber, Kulissen. Halt an, knie dich hin. Ruh dich aus. Abgemacht?
Du fragst dich, wer da spricht. Spricht da der große Reformator? Oder der Mann mit dem Strohhut? Der tote Dobrand? Oder bist du das, der da spricht? Welchem Arschloch gehört diese Stimme? Bist du dieses Arschloch, das da spricht, oder spricht da der Dämon? Oder bist du der Dämon?
Für dich weht kein Wind, kein gnädiger Wind, du kannst nicht schlucken, und niemand nennt deinen Namen. Aber du sagst zu dir oder zu dem Dämon: Halt einfach die Fresse. Denn der da stirbt, das bist zwar du, der Junge im blau-weißen Trikot, aber gleichzeitig schaust du ihm nur dabei zu, wie er stirbt. Solange du schauen kannst, kannst du nicht tot sein, kapiert? Du kannst ohne Weiteres denken: Ich sehe diesem Jungen bloß dabei zu, wie er krepiert. Ich merke, wie sich sein Gesicht zur Grimasse verzieht, weil ihm die Luft ausgeht und er nicht schlucken kann. Ich hingegen laufe weiter, auch ohne Beine, Schultern, Arme und ohne Luft. Denn heute ist ein guter Tag zum Sterben. Fünfzehn Punkte, sieben Sekunden, fünfundzwanzig Meter weg vom Roten, der plötzlich vor Kraft auf der Stelle tritt.
Und Jakob Friedrich – Altersklasse zwölf, unhaarig, Startnummer 21, bisheriger Zweiter, Novemberjunge, niemandes Kind und Sohnemann – rückt hinaus auf Bahn zwei, die Bahn der Windsucher, der Schauenden und Hoffenden, und ein gewisser Amon sieht ihm dabei zu, wie er sich das letzte bisschen Leben aus dem Leib rennt, an einem Sonntag Ende Juno. Es blühte der Klee.
12. Hecht
Bezirksverwaltung
Für Staatssicherheit
L., 1. September 1982
Abteilung XVIII
do-schn 2172
bestätigt
Stellvertreter Operativ
Eppisch
Oberst
Eröffnungsbericht zum OV „H e c h t“ Reg.-Nr. XIII/110/82
Der seit dem 19.10.1977 rechtswidrig auf Übersiedlung nach der BRD ersuchende
F r i e d r i c h,
Frank
PKZ:
17 06 46 4 24 95 9
geb. am:
17.6.1946
Geburtsort:
Guben
wohnhaft:
7030 L., Regenstr. 27
Beruf:
Fernmeldemechaniker,
Ing.-Ökonom
Tätigkeit:
VEB Chemiekombinat Leuna,
Betriebsteil Proben- und
Vermessungswesen
Partei:
parteilos
Organisation:
nicht organisiert
Merkmale:
keine
Nationalität:
deutsch
Staatsangehörigkeit:
DDR
Familienstand:
verwitwet
Kinder:
Jakob 1969
MfS:
erfasst für BV L.,
Abteilung XVIII
ist der Begehung von Straftaten gemäß § 97, § 100, § 142 u. § 213 StGB verdächtig.
Zur Sache
Über seine am 14.12.81 nach der BRD als Rentnerin legal übersiedelte Mutter
W i n t e r,
Polina, geb. Sauer verw.
Friedrich
geb. am:
13.12.1914
Geburtsort:
Bilhorod-Dnistrowskij
(Akkerman), UdSSR
wohnhaft:
8733 Bad Itz, Prinzregentenstr. 1
MfS:
nicht erfaßt
nahm F. mit einer Briefsendung vom 03.04.82 die Verbindung zum Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen (BMB) auf. F. verbrachte zur Weiterleitung mit o. g. Briefsendung ein Schreiben an den Bundesminister Franke – vordatiert auf 27.03.82 – sowie einen
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