Das halbe Haus: Roman (German Edition)
kamt.«
»Der Dunkle, der den Vereinsrekord im Weitsprung hält?«
»Hielt«, sagt der Trainer mit Sekundenlächeln. »Sein Vater war aus Mosambik.«
»Stimmt«, sagt Jakob, »mein fünfter war Vereinsrekord.«
»Dobrand war gut«, sagt der Trainer, »der perfekte Springer, sprintstark, sprungstark. Ein bisschen zu klein noch, aber er würde wachsen. Er würde in seine Stärke hineinwachsen, man musste ihn nach und nach aufbauen. Als er auf die KJS ging, sprang er fünf fünfunddreißig und lief die Sechzig glatt auf acht. Ich war’s zufrieden. Ein Jahr später lief er sieben zwei und sprang einen Meter weiter.«
Der Trainer schüttelt den Kopf, und Jakob denkt: Ja, so ist es. Wenn sie einen nehmen, wird man sofort noch besser. Spartakiadesieg, Olympiasieg.
»Er war explodiert, lange vor seiner Zeit«, fährt der Trainer fort. »Plötzlich konnte er auch Kugelstoßen und donnerte das Ding über fünfzehn. Ich habe es in den Jahrgangslisten gesehen und habe seine Mutter besucht. Die Mutter weinte: Ihren Marcel, den gebe es nicht mehr, es sei ein ganz anderer Marcel aus ihm geworden, einer, der nicht mehr aus dem Internat nach Hause kommt, ein wütender junger Mann, der in Fahrräder und Mülltonnen tritt und Menschen schlägt, auch solche, denen er sein Leben verdankt. Da wusste ich: Chemie. Man hat ihm Chemie gegeben, die kleinen blauen Pillen oder die kleinen weißen, vielleicht auch schon Spritzen. Musst du dir mal klarmachen: zwölf, dreizehn.« Er klopft wieder gegen seine Stirn. »Diese Chemie lässt die Muskeln anschwellen, man kann länger und härter trainieren und erholt sich schneller. Es ist bloß die Chemie, die einen weiter springen oder schneller rennen lässt, nichts sonst. Die Chemie macht aus einem Jungen einen Mann, sie überspringt einfach die Jahre, ein Zwölfjähriger hüpft ab, und ein Fünfzehnjähriger landet ein paar Sekunden später. Ich wollte mit Dobrand reden, aber er sagte nein.«
Der Trainer nimmt jetzt doch wieder eine Banane in die Hand, schält sie aber nicht. »Als er dann wirklich fünfzehn war, sprang er unglaubliche sieben Meter weit und dann aus dem Fenster.« Er wirft die Banane in die Ecke. »Was ich sagen will«, sagt der Trainer: »Nimm nichts von niemand. Man muss nicht über sich hinauswachsen, man muss in sich hineinwachsen.« Während Jakob überlegt, welche Farbe Äitsch haben könnte, fährt der Trainer fort: »Du kannst etwas, das nicht viele können, ich hab’s gesehen: Du kannst dich loslösen. Auch dir tut’s weh, aber dann kannst du dich loslösen. Ich glaube nicht, dass Kupfer das kann. Ich glaube, er wird an seiner Kraft ersticken.«
Jakob weiß nicht so genau, was sein Trainer meint. Es wird wohl um das gehen, was er bereits heute Morgen angesprochen hat. Das mit den Dämonen und dem unbekannten Ort. Er fragt lieber etwas anderes: »Von welchem Ring hat der Mann gesprochen?« Weil ihn der Trainer nicht sofort versteht, ergänzt er: »Vorhin. Ich meine den Ring, den er mal im Mund hatte.«
»Ach«, sagt der Trainer und steht auf, »das war der Abzugsring einer Handgranate.« Im Hinausgehen sagt er: »Dein fünfter war übrigens auch Bezirksrekord.«
Draußen herrscht helle Aufregung. Kößling und Krüger kommen angetanzt: »Trainer, Trainer, wir sind jetzt nebenan im großen Stadion. Für die Achthundert dürfen wir ins große Stadion!«
»Wir wechseln«, sagt der Trainer, »sofort die Dornen an euren Schuhen. Die Zwölfer raus, die Sechser rein. Heute lauft ihr zum ersten Mal auf Tartan.«
»Tartan«, sinniert der Vater. »Polyiocyanate, Aluminiumsilikate, Farbstoffe. Elastisch, wetterbeständig, weitgehend alterungsresistent.«
»Beneidenswerte Eigenschaften«, sagt die Lady schmunzelnd zum Vater. Zu Jakob sagt sie: »Ich wünsche dir noch viel Glück. Wir müssen jetzt leider zum Zug. Aber wir sehen uns ja bald schon wieder.« Einen halb leeren Erdbeerkorb in der Hand, geht sie schwingend davon. Die Kampfrichter und sogar der Mann mit dem Strohhut sehen ihr nach. Auch der Vater verfolgt sie bis zum Schluss mit den Augen.
Jakob holt den Schraubenschlüssel. Die Sechs-Millimeter-Spikes aus dem Osten passen auch in seine Westschuhe.
»Heute ist ein ganz besonderer Tag.« Der Mann mit dem Strohhut steht vor den Wettkämpfern, die sich an der gebogenen Startlinie aufreihen. Von oben mögen sie aussehen wie fröstelnde Wellensittiche, die Jungen von Empor, Rotation, Motor und Vorwärts. »Denn heute«, fährt der Mann fort, »spüren wir noch den
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