Das halbe Haus: Roman (German Edition)
hat er keinen. Er wird ihr helfen. Nur weiß er nicht, in welchem Zimmer die Frau und sein Vater zu finden sind. Barfuß geht er über den Flur wie über Moos. Er geht von Tür zu Tür und lauscht. Die Türen sind von innen gepolstert. Nachdem er an jeder Tür seines Flurs gehorcht hat, steigt er ein Stockwerk höher und wiederholt seine Suche. Im letzten, im obersten Flur sieht er die Blütenspur. Er folgt der Spur. Mit angehaltenem Atem bleibt er an der Tür stehen, vor der die Spur abreißt. Er lauscht. Er hört nichts als sein eigenes Blut. Dann, ganz leise, vernimmt er eine Stimme. Es klingt so, als würde die Frau singen. Die Gitarre ist nicht zu hören. Die Frau hat einen Gesang angestimmt, sie singt mal hell und mal dunkel. Nun singt der Vater mit, kräftig und stet. Die Frau und der Vater singen ein Lied. Er kehrt um. Bevor er das Treppenhaus erreicht, greift er ins Moos.
Natürlich hatte er davon gehört. Falk Ulmen hatte ihm erzählt, dass es bei seiner Schwester angefangen habe. Sie standen beim Morgenappell nebeneinander, und Falk flüsterte: »Meine Schwester blutet. Da unten.« Mehr sagte er nicht. Zum Ende des Appells sangen sie, wie passend, das Lied vom kleinen Trompeter, dem lustigen Rotgardistenblut, und lachten sich weg. Er nahm an, dass Falk Ulmens Schwester blutete, weil sie meschugge war, weil sie einen an der Waffel hatte, weil bei ihr eine Schraube locker war. Die Frage war nun, ob das Mädchen blutete, weil es auch meschugge war. Oder zur Strafe, weil es etwas Schlimmes getan hatte. Was sollte er tun mit dem Mädchen, das blutete und allein gelassen werden wollte?
Als er das Zimmer wieder betrat, war es dunkel und still. Die Vorhänge waren geöffnet, die Nacht stand vor dem Fenster.
»Ich dachte schon, du kommst nicht wieder«, sagte die Stimme des Mädchens.
»Ich habe deine Mutter nicht gefunden, obwohl ich alles abgesucht habe.«
»Ist doch egal, ob du sie findest oder nicht.«
Er legte sich neben sie. Meschugge klang sie nicht.
»Was ist das für eine Scheiße, Pa-elja?«, fragte sie.
»Keine Ahnung«, sagte er.
Sie ließ ihre Hand in seine gleiten. Ihre Hand war trocken und warm, er erwiderte ihren Druck, als sei es das Normalste von der Welt. Seine andere Hand war noch geballt.
»Ich heiße Leo«, sagte das Mädchen, »auf Leonore höre ich schon mal gar nicht.«
»Kapiert.«
»Hast du einen Spitznamen?«
»Nie gehabt.«
»Andere Vornamen? Meine sind Luise Wilhelmine Sophie.«
»Alles auf einmal?«
»So hießen Königinnen. Mein Vater fährt darauf ab, auf dieses Königszeug.«
»Ich habe keinen anderen Namen.«
»Dann müssen wir einen für dich finden.«
»Mein Vater fährt auf diese Musiksachen ab. Blues und Country und so. Bob Dylan, Johnny Cash.«
»Du musst dir einen eigenen Namen machen. Worauf fährst du denn ab?«
»Was ist mit dem Blut?«
»Hat aufgehört. Worauf fährst du ab?«
»Sport.«
»Was für Sport?«
»Leichtathletik.«
»Welche Leichtathletik?«
»Weitsprung.«
»Und welcher Weitspringer ist der Beste? Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.«
»Lutz Dombrowski. Acht Meter vierundfünfzig in Moskau. Olympiasieger, DDR -Meister, Landesrekord.«
»Lutz ist der Beste?«
»Im Moment schon.«
»Weltweit und aller Zeiten? Lutz passt nicht. Gibt es keinen Julius oder Anselm oder Jacques?«
»Es gibt Bob Beamon, der den Weltrekord hält.«
Leo überlegte. »Also muss es doch Bob sein. Obwohl das nicht so recht passt, klingt irgendwie zu gewöhnlich. Wie schreibt sich das: Beamon?«
Er buchstabierte es für sie.
»Dann liegt es doch auf der Hand: Be Amon, sei Amon. Du heißt jetzt Amon. Das ist dein nom de guerre . Das ist Französisch. Weißt du, was das bedeutet?«
»Non.« Auf Französisch konnte er noch »Ja« und »Achtung« sagen und: »Wollen Sie mit mir schlafen?«
»Das bedeutet so was wie ›Kampfname‹. Der Name, den du im Krieg führst. Meiner ist Leo, deiner ist Amon.«
»Ist denn Krieg?«
»Ja.« Sie nahm ihre Hand weg, richtete sich auf und hielt ihm die Hand wieder hin: »Ich bin Leo. Schön, deine Bekanntschaft zu machen, Amon.«
»Ganz meinerseits«, sagte er und nahm ihre Hand. »Komm ans Fenster, Leo.«
Sie standen auf, und er sah, dass sie wieder ihre Straßenkleider trug. Das Nachthemd war verschwunden. Er öffnete die Fensterflügel und seine Faust.
»Nimm eins«, sagte er.
Leo befeuchtete den Zeigefinger ihrer rechten Hand und stippte ein Blütenblatt auf.
»Wir haben einen Wunsch frei«,
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