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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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und ein von ihm aufgegebenes Rätsel, und zum anderen ein ebenbürtiger Konkurrent! Also, verlieren wir keine Zeit. Wir haben eine halbe Stunde Vorsprung vor Fandorin. Die sollten wir nutzen!«
    Damit schlüpfte Holmes in den Gang.
    Ich überwand diese Enge weniger gewandt als er. Mein Freund war bereits in der Bibliothek, als ich mich noch immer seitwärts durch den Gang zwängte. Die Knöpfe meines Gehrocks schabten an der Wand entlang, einer riss ab, und ich gestehe, dass ich den seligen Des Essarts senior mehrfach mit derben Worten bedachte.
    Doch als ich endlich das Innere des Turms erreicht hatte, vergaß ich bei dem Anblick, der sich mir bot, schlagartig meinen Ärger.
    Im ersten Moment konnte ich die Einrichtung des runden Raums nicht gleich ausmachen, ich bemerkte nur, dass im Kamin ein Feuer brannte und dass sämtliche Wände mit Ausnahme der Fensternischen von Bücherregalen eingenommen wurden. Aberich schaute mich nicht weiter um. Meine Aufmerksamkeit wurde ganz gefangengenommen von der auf dem Boden liegenden Gestalt. Dieses Bild werde ich nicht so bald vergessen!
    Das mit einem leichten Plaid bedeckte Mädchen war auf dem Boden ausgestreckt, als sollte es gevierteilt werden. Schreckeinflößende Mechanismen mit Drehscheiben und Kurbeln standen an Kopf- und Fußende der Liegenden. Die mit Watte gepolsterten Handgelenke und Knöchel des Mädchens waren mit Stricken gefesselt, sodass sie beim besten Willen kein Glied rühren konnte. Ihr Hals war eingegipst. Das alles erinnerte so sehr an eine Folterkammer der Inquisition, dass der danebenstehende medizinische Tropf wie ein himmelsschreiender Stilbruch wirkte.
    Da Miss Eugénie, eine hübsche Blondine mit entzückendem Stupsnäschen, den Kopf nicht in unsere Richtung wenden konnte, bewegte sie nur die lebhaften braunen Augen. Vor dem Unfall war sie bestimmt ein lebensfrohes, gesundes Fräulein mit stets rosigen Wangen gewesen. Nun aber waren ihre Wangen bleich, unter ihren Augen lagen Schatten, und mein Herz krampfte sich vor Mitleid zusammen.
    »Ich weiß Bescheid, Sie sind Papas Freunde aus London!«, rief die Ärmste mit heller, melodischer Stimme. Sie sprach recht gut Englisch, nur mit einem leichten Lispeln. »Wie schade, dass ich nicht mit Ihnen zusammen Silvester feiern kann. Aber Sie werden doch mit mir anstoßen? Nur einen kleinen Schluck Champagner, Professor! Auf das zwanzigste Jahrhundert!«
    Erst jetzt warf ich einen Blick auf den Mann, der sich aus einem Sessel erhob und auf uns zukam.
    Doktor Lebrun erwies sich als Subjekt von recht unangenehmem Äußeren: Klapperdürr, schwarzes Akademikerkäppchen, hängender Schnurrbart, Hakennase und eingefallener Mund.
    »Auf keinen Fall!«, schnarrte er. »Champagner! Das fehlte noch. Nichts, was den Magen reizt. Die Nährlösung, die ich Ihnen intravenösverabreiche, stimuliert vorzüglich den Harnabfluss und blockiert zugleich die Darmtätigkeit, die in Ihrer Lage Schaden anrichten könnte. Die im Champagner enthaltenen Gase könnten Meteorismus und Flatulenzen verursachen.«
    Ohne zu bemerken, dass Eugénie schamhaft errötet war, brummte der verknöcherte Gelehrte: »Im Übrigen beginnt das neue Jahrhundert nicht heute, sondern erst in einem Jahr, und dann werden Sie gewiss Champagner trinken. Wenn Sie auf mich hören.«
    Auch er sprach Englisch – sehr korrekt, aber farblos; das typische Englisch ausländischer Referenten auf wissenschaftlichen Konferenzen.
    Aber immerhin war diesem Mann eine Patientin wichtiger als die Furcht vor der Bombe! Wie sehr doch das Äußere manchmal täuscht, dachte ich, trat zu dem selbstlosen Hippokrates-Jünger, stellte mich vor, drückte ihm fest die Hand und flüsterte: »Ich weiß Bescheid und bewundere Sie.«
    »Sagten Sie Doktor?«, fragte er mümmelnd. »Ein Kollege also?«
    »Ich bin nur ein bescheidener praktischer Arzt, obendrein praktiziere ich kaum«, erwiderte ich. »Trotzdem wäre ich Ihnen verbunden, wenn Sie mir Ihre Diagnose mitteilen würden.«
    Ich ging mit dem Professor beiseite, damit die Patientin nicht zu viel hörte. Im Übrigen war sie abgelenkt – Holmes hockte vor ihr und stellte ihr halblaut Fragen.
    »Nicht die Halsmuskeln bewegen!«, rief Lebrun unwillig. »Und auch die Stimmbänder sollten Sie nicht mehr als nötig anstrengen!«
    »Gut, Doktor. Ich tue ja alles, was Sie sagen. Wenn Sie mich nur heilen«, flüsterte die Leidgeprüfte, und ich zwinkerte heftig, um die aufkommenden Tränen zu unterdrücken.
    Immer wieder misstrauisch zu

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