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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Tatsächlich standen dort an allen Wänden Sofas und Sessel. Keuchend vom anstrengenden Treppensteigen, sank Des Essarts in einen davon und schnappte nach Luft.
    »Gleich … Einen Augenblick … Das Herz …«
    Holmes schaute sich um, zeigte auf eine Tür am hinteren Ende des Raums und fragte: »Wenn ich das richtig sehe, ist das der Eingang zu dem großen Turm an der Nordseite des Hauses? Führen Sie uns dorthin?«
    »Ja. Dort befindet sich die Bibliothek. Aber Sie werden ohne mich hineingehen. Ich kann nicht.« Der Hausherr klopfte sich die rundlichen Seiten – eine Geste, die mir seltsam erschien. Aber die Erklärung folgte sogleich. »Der Eingang ist zu eng. Auch so ein Einfall von Papa. Mütterchen war korpulent, er selbst dagegen von schlanker Gestalt, also hat er sich einen Zufluchtsort geschaffen, an den er sich bei Ehestreitigkeiten zurückzog. Nach Papas Tod ist alles so geblieben. Mama wollte den Eingang erweitern lassen, doch der Architekt meinte, das könnte Risse im Gemäuer verursachen …« Des Essarts lächelte traurig. »Es gab einmal eine Zeit, da auch ich mich vor dem Zorn meiner Frau in der Bibliothek verkroch, doch seit rund fünfzehn Jahren passe ich nicht mehr durch diesen – ich habe das Wort vergessen – goulot.«
    »Flaschenhals«, sagte Holmes, der mit interessierter Miene gelauscht hatte. »Aber fahren Sie bitte fort!«
    »Jetzt verkriecht sich meine Tochter dort, wenn ich schreie und schimpfe. Ich bin recht unbeherrscht und habe der Ärmsten allzu oft mit Vorwürfen zugesetzt, meist übertrieben und ungerecht …«
    Er klapperte mit den Wimpern, und Tränen strömten aus seinen Augen. Des Essarts barg sein Gesicht hinter einem Taschentuch.
    »Warum sprechen Sie in der Vergangenheit? Was ist geschehen?«, fragte ich.
    »Vor drei Tagen hatten wir wieder Streit«, ertönte seine dumpfe, von Schluchzen unterbrochene Stimme hinter dem Taschentuch. »Ich verfolgte Eugénie bis hierher, und als sie in die Bibliothek schlüpfte, rief ich ihr kränkende Worte nach. Dabei weiß ich gar nicht mehr, warum ich so über sie gefallen bin.«
    »Hergefallen«, korrigierte ich ihn automatisch.
    »Ja, hergefallen … Um das Ende des Sturms abzuwarten, wollte Eugénie ein Buch lesen. Sie rückte die Leiter an die Regale – sie reichen bis zur Decke. Und fiel herunter! Von ganz oben! Es warschrecklich! Ich hörte das Krachen und ihre Schreie und konnte nicht zu ihr – mein verdammter Bauch …«
    Bevor er weiterredete, entlud er sich erneut in heftigem Schluchzen.
    »Die Ärmste ist auf Kopf und Rücken gefallen. Als die Diener sie hochheben wollten, schrie sie vor Schmerz so laut, dass ich befahl, sie liegenzulassen. Früher wäre ich auf den hiesigen Doktor angewiesen gewesen. Doch wie Sie wissen, gibt es im Haus ein Telefon, und seit dem letzten Jahr existiert eine Verbindung ins Fernmeldenetz. Ich konnte mit Professor Lebrun sprechen, dem berühmtesten Pariser Neurochirurgen. Ein Hoch auf den Fortschritt! Nachdem sich der Professor meinen zugegeben recht verworrenen Bericht geduldig angehört hatte, stellte er nur eine einzige Frage: Ob der Boden in dem Raum aus Stein sei. Als ich erwiderte, er sei aus Holz, sagte Monsieur Lebrun: ›Ausgezeichnet. Sie wird sich also nicht erkälten. Heizen Sie den Raum gut und betten Sie das Mädchen möglichst eben. Sie darf sich auf keinen Fall bewegen, und legen Sie ihr nichts unter den Kopf. Geben Sie ihr kein Wasser und nichts zu essen. Ich komme mit dem nächsten Zug.‹«
    »Mein Gott«, flüsterte Holmes. »Das ist entsetzlich!«
    »Ja, eine Wirbelsäulenverletzung ist kein Scherz«, bestätigte ich. »Ich hatte in meiner Praxis schon mit sehr schweren Fällen zu tun …«
    »Ach, Watson, ich rede nicht von der Verletzung!«, unterbrach mich der Detektiv mit einer Emotionalität, die mich überraschte. »Ihre Tochter ist also noch immer dort, Sir?«
    »Ja, das ist ja das Schlimme! Sie darf auf keinen Fall fortgetragen werden! Der Professor hat sie untersucht und gesagt: ›Sie braucht absolute Ruhe. Mindestens zwei Wochen lang. Dann besteht die Chance, dass die gebrochene Wirbelsäule wieder zusammenwächst, ohne das Rückenmark einzuklemmen. Anderenfalls bedeutet das die vollständige Lähmung.‹ Monsieur Lebrun ist ein Heiliger!Nicht genug, dass er sich bereit erklärt hat, die gesamten zwei Wochen bei Eugénie zu bleiben und sie zu pflegen; als ich ihm von der Höllenmaschine erzählte (das konnte ich ihm schließlich nicht verschweigen), sagte er:

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