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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Holmes hinüberblickend, beschrieb mir der Professor im Eiltempo widerwillig die Lage der Dinge. Ich verstehe nicht viel von Neurophysiologie und bin, ehrlich gesagt, kein eifriger Leser medizinischer Fachzeitschriften.Ohne einige wie durch ein Wunder in meinem Gedächtnis haftengebliebene Lateinkenntnisse hätte ich kein Wort begriffen.
    »Eine Verletzung des Vertebra cervicalis, Verdacht auf einen Riss im Arcus superior. Am schlimmsten ist die vorliegende Verschiebung und Einklemmung des Medulla spinalis. Ich habe getan, was ich konnte. Aber zwei Wochen vollkommener Ruhelage auf der l’estrapade 3 , wie ich diese Konstruktion genannt habe, sind die einzige Chance zur vollständigen oder wenigstens teilweisen Wiederherstellung der Innervation des Bewegungsapparates. Aber die geringste Erschütterung, und …« Er schüttelte vielsagend den Kopf.
    »Tetraplegie, Kollege?« Ich nickte verstehend, nachdem mir glücklicherweise der Fachbegriff für die Lähmung aller vier Gliedmaßen eingefallen war.
    »Genau.«
    Schade, dass Holmes nicht hörte, wie ich in diesem gelehrten Dialog mithielt – er flüsterte noch immer mit Miss Des Essarts.
    »Erlauben Sie, Sir.« Lebrun schob mich beiseite und ging zu dem Mädchen. »Zeit für die Massage.«
    Er kniete sich hin und massierte der Patientin die Füße, doch ich sah gleich, dass die Leuchte der Neurochirurgie darin wenig geübt war – solche Dinge übernehmen gewöhnlich Pflegerinnen.
    »Ich glaube, das kann ich besser, Kollege«, sagte ich mit allem gebotenen Respekt. »Gestatten Sie, darin habe ich mehr Übung.«
    »Bitte.« Der Maître erhob sich blasiert. »Ich muss mich ohnehin entfernen und mit der Klinik telefonieren.«
    Er ging hinaus, und ich nahm so zartfühlend und behutsam wie möglich die Massage in Angriff.
    »Sie sind auch Arzt?« Miss Eugénie lächelte mich freundlich an. »Sie haben sehr sanfte Finger. Oh, das kitzelt!«
    »Ausgezeichnet! Das Gefühl ist also noch da, das ist ein hoffnungsvolles Zeichen.«
    Ich wechselte zu den Handgelenken, und nun sah Eugénie mich an, den Kopf leicht zurückgelegt.
    »Doktor, ich habe eine große Bitte«, flüsterte sie leise. »Da drüben, auf dem obersten Regal, hinter der 45-bändigen Enzyklopädie, steht eine Schatulle. Könnten Sie die bitte herunterholen? Aber psst!«
    Ich griff nach der verhängnisvollen Leiter, der Verursacherin des Unglücks, stellte sie auf, prüfte ihre Standfestigkeit und kletterte bis zur Zimmerdecke.
    »Was wollen Sie da oben, Watson?«, fragte Holmes, der gerade die Lüftungsöffnung in der Wand studierte.
    »Ich möchte in der Enzyklopädie über Tetraplegie nachlesen.«
    Damit verlor er das Interesse an mir.
    Sämtliche Bände waren mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Bis auf einen, den Band 45, der offenbar häufig von seinem Platz genommen wurde. Hinter dem Folianten fand ich eine elegante Lackschatulle, klemmte sie mir unters Kinn und kletterte hinunter.
    »Machen Sie sie auf, aber so, dass es niemand merkt«, bat Eugénie.
    Ich war neugierig, was die Schatulle enthalten mochte.
    Nichts Besonderes, wie sich herausstellte. Flakons, Tuben, kleine Pinsel – kurz, eine komplette Kosmetikausstattung.
    »Papa will nicht, dass ich mich schminke. Darum mache ich es heimlich«, erklärte die Mademoiselle. »Auch diesmal wollte ich gar kein Buch herunterholen … Halten Sie den Spiegel. Ich will schauen, wie ich aussehe.«
    Auf ihr Gesicht trat jener konzentrierte Ausdruck, mit dem jede Frau in den Spiegel blickt – unzufrieden und hoffnungsvoll zugleich.
    »Entsetzlich«, sagte Eugénie niedergeschlagen. »Schlimmer, als ich dachte. Und Papa hat gesagt, es kommen noch mehr Gäste, ein Herr aus Amerika. Um Christi willen, helfen Sie mir, DoktorWatson! Nehmen Sie das Rouge. Die runde Schachtel da. Tauchen Sie den Pinsel hinein. Nein, nein, nicht so heftig. Bestreichen Sie die Wangen. Zeigen Sie her. Aber nein! Das ist zu viel. Wischen Sie es ab. Na schön, so geht es. Und nun den Lippenstift …«
    Brav und gewissenhaft folgte ich den Anweisungen von Miss Des Essarts. Mir stockte das Herz vor Mitleid und Begeisterung. Oh, diese Frauen! In ihnen steckt so viel Mut und Standhaftigkeit, dass wir Männer einiges von ihnen lernen könnten. Das wird mein ach so kluger Freund mit seiner albernen Frauenphobie nie verstehen.
    »Die Unterlippe, schnell!«, trieb Eugénie mich an. »Ich höre Schritte im Diwanzimmer. Der Gast ist schon da! Weg mit der Schatulle!«
    Ich konnte die Schachtel gerade

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