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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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einigem Nachdenken verwarf Fandorin auch diese Version. Denn eigentlich hatte er noch keine konkrete Aufgabe erhalten. Es war nicht klar, was der Auftraggeber wollte, und vielleicht hatte es gar keinen Sinn, sich dieses Falls anzunehmen. So hatte er es Mr. Pinkerton gesagt.
    Nein, das passte auch nicht.
    Also blieb die dritte: Rache des Doktor Lind, des geheimnisvollen Oberhaupts der mächtigen Organisation, von der die Gesetzeshüter bislang kaum etwas wussten.
    Vor einem Monat hatte Fandorin einen Bankraub bei der Eastern United vereitelt. Er selbst hielt die Operation für misslungen, weil Schüsse gefallen und die Leute, die festgenommen werden sollten, zu Tode gekommen waren, während der Haupttäter hatte fliehen können. Aber Doktor Lind, der keine Niederlage ertrug, kochte wohl vor Wut. Dafür gebührte auch den Zeitungen Dank. Sie hattenim ganzen Land ausposaunt, dass der heldenmütige Mr. Fandorin (manchmal schrieben sie auch Fandorine oder gar Fundoreen) ganz allein dem König der Unterwelt eine schmähliche Niederlage beigebracht habe. Aus dem bescheidenen Gasthörer an der Fakultät für Mechanik und Ingenieurwesen, der sich von Zeit zu Zeit mit privaten Ermittlungen etwas dazuverdiente, war über Nacht eine amerikanische Berühmtheit geworden oder, wie das hierzulande hieß, ein »Star«.
    Das brachte wenig Rosen, doch viele Dornen.
    In das Laboratorium auf der Newbury Street kamen Scharen von Autogrammsammlern und störten ihn bei der Arbeit. Erstens.
    Reporter der Bostoner Presse lauerten ihm vor der Tür auf und blendeten ihn mit Blitzlichtern. Zweitens.
    Seine Wirtin hatte sogleich die Miete erhöht. Drittens.
    An der Fensterscheibe drückten sich ständig ein paar Bengels die Nasen platt. Viertens.
    Nun, und fünftens: Vor einer Woche machte Fandorin die erste Probefahrt mit dem neuen Benz Velo, das soeben von dem Mannheimer Werk geliefert worden war, und an einer steil abschüssigen Stelle versagten plötzlich die Bremsen. Am Leben blieb er durch reinen Zufall – sprang gerade noch hinaus, und das Wunder der deutschen Technik stürzte in den Fluss. Nachdem es geborgen worden war, stellte sich heraus, dass das Bremsseil durchgeschnitten war. Der erste Gruß von Doktor Lind. Es war klar, dass der zweite nicht lange auf sich warten lassen würde. Da war er auch schon – die Schüsse aus dem Dunkel.
    Der Auftrag von Pinkerton passte unter diesen Umständen nicht so recht. Fandorin hätte sich ernstlich mit Doktor Lind befassen müssen, der würde ohnehin keine Ruhe geben, also war es besser, selber aktiv zu werden.
    Aber er hatte den Scheck genommen, und zwar über ein erkleckliches Sümmchen. Hier in den Vereinigten Staaten wirkte sichRuhm sofort auf die Honorare aus. Also musste er sich beim Auftraggeber einfinden und ihn anhören. Nur dies hatte er bislang zugesagt.
    Mit der National Detective Agency hatte er schon mehrmals zusammengearbeitet, doch noch nie hatte man ihn mit dringendem Telegramm aus Boston zu Robert Pinkerton bestellt, dem Chef der New Yorker Abteilung der Corporation. Dessen Vater, der große Allan Pinkerton, hatte ein Leben voller Gefahren und Abenteuer hinter sich gebracht: Er hatte Spione, Mörder und Räuber gejagt, hatte Präsident Lincoln gerettet; und er hatte ein Fahndungsimperium, wie es die Welt noch nicht gesehen, aufgebaut und perfektioniert. Der größte Vorzug dieses Bewahrers fremder Geheimnisse war seine Fähigkeit, die Interessen seiner Kunden zu schützen. Sein Tod vor zehn Jahren war symbolisch gewesen: Er stolperte auf der Straße, fiel hin und biss sich auf die Zunge – so heftig, dass der Wundbrand eintrat. Der passendste Tod für einen Mann, der wie kein zweiter die Zunge im Zaum zu halten wusste.
    Seine beiden Söhne setzten sein Werk fort: William leitete die Westfiliale, die in Chicago ihren Sitz hatte; Robert wurde Direktor der Ostfiliale in New York. Für die Brüder arbeiteten 2000 festangestellte Agenten und ein paar tausend »Reserveagenten« in allen Staaten der USA wie auch in den Schlüsselstädten des Planeten.
    Als Fandorin das Stabsquartier der Agency, ein solides vierstöckiges Gebäude am Broadway, betrat, wurde er sogleich zu dem großen Chef geführt.
    Robert Pinkerton, ein Mann mit Schnurrbart und schwerem, ruhigem Blick, erhob sich beim Eintritt des Besuchers – ein Zeichen seiner Hochachtung. Er drückte Fandorin kräftig die Hand, und das steinerne Gesicht machte einen wenn auch nicht sehr gelungenen Versuch zu lächeln, was kaum

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