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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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nicht in der Bequemlichkeit und auch nicht in der Sicherheit. Die Entwicklung der Zivilisation ermöglicht es dem Menschen, seine geistige Energie nicht auf die entwürdigenden Strapazen des Alltags zu konzentrieren, sondern auf seine innerste Natur.
    Die Strecke führte zwischen begrasten sanften Hügeln hindurch, und es schien, dass der Zug auf den gemächlichen Wellen des Ozeans schaukelte. Am Horizont türmte sich die Steppe zu Bergen voller grüner Runzeln, und es sah aus, als ob ihnen ein gigantischer Tsunami entgegenraste. Irgendwo dort am Fuß der Berge lag Crooktown.
    Bevor Fandorin sich ans Lesen der Zeitungen machte, schaute er ins Badezimmer, um nach Masa zu sehen.
    Dem ging es prächtig. Durch die hochgezogenen Fenster wehte ein frisches Lüftchen herein, der Steward schenkte duftenden Tee nach, und der Japaner aalte sich in der Wanne und grölte sein Lieblingslied vom betrunkenen Samurai aus dem Clan der Kuroda.
    Im Diwanzimmer blieb Fandorin einen Moment vor dem Spiegel stehen. Doch, der weiße Anzug war sein Geld wert. Mr. Lanzetti, der Schneider in der Cambridge Street, hatte eine große Zukunft vor sich.

    Auf der Titelseite der New York Times stand ein Bericht über eine schreckliche Feuersbrunst im Staate Minnesota. In diesem Land war alles gigantisch und übertraf jede Einbildungskraft. Fandorin versuchte, sich eine Feuerwalze von vier Meilen Höhe und zwanzig Meilen Breite vorzustellen, die mit Windgeschwindigkeit dahinrast. Fünf Städte waren vollständig niedergebrannt. In dem StädtchenHinckley waren alle umgekommen, die sich nicht in Brunnen oder in den Fluss geflüchtet hatten. Ein todesmutiger Lokführer hatte, den Feuertod riskierend, seinen Zug in den lodernden Skunk Lake gefahren und 300 Menschen aus der Flammenhölle gerettet.
    Auf der Auslandsseite wurde viel über Russland geschrieben, wie üblich Unangenehmes.
    In den polnischen Gouvernements wütete eine Choleraepidemie.
    Der Zar und Imperator lag in Liwadija im Sterben, er würde es wohl höchstens noch einen Monat machen. Seine Nachfolge würde dann Kronprinz Nikolaus antreten, dem alle nachsagten, er sei zu jung und unerfahren. Der Zar hatte versprochen, seinen Sohn bis zu dessen dreißigstem Lebensjahr in der Kunst des Regierens zu unterweisen, somit war Nikolaus nicht fertig ausgebildet, denn er war erst sechsundzwanzig.
    Der russische Anarchist Ungern-Sternberg, nach dem die Polizei mehrerer europäischer Länder wegen Sprengstoffanschlägen an belebten Plätzen fahndete, war in Wirklichkeit kein Revolutionär, sondern ein Provokateur und Agent der russischen Geheimpolizei. Sein Ziel war es, auf dem Kontinent eine antirevolutionäre Hysterie auszulösen, damit die Regierungen Emigranten nach vereinfachtem Verfahren an die russische Staatsanwaltschaft überstellten.
    Am unangenehmsten aber war eine Nachricht aus dem Fernen Osten. Russland habe sich entschlossen, sich in den japanisch-chinesischen Konflikt einzumischen, und entsende zwei Panzerschiffe nach Port Arthur, um diesen strategisch wichtigen Punkt nicht den Kriegern des Mikado in die Hände fallen zu lassen. Ach, was sie doch für Porzellan zerschlugen, die Petersburger Schlauberger! Sie ahnten kaum, auf was sie sich da einließen …
    Ein lautes Geräusch, als ob ein Glas oder eine Flasche zersprang.
    Auf die Zeitung in Fandorins Händen rieselten Glaskrümel.
    Dröhnen, Krachen, gellendes Pfeifen der Zugsirene – und all das gleichzeitig.
    Fandorin blickte auf und sah mitten in der Fensterscheibe ein Loch, von dem strahlenförmig Risse ausgingen.
    Daneben erschien gleich darauf ein zweites Loch, ein drittes, und die Scheibe fiel aus dem Rahmen und zerklirrte am Fußboden. Die Schüsse waren nicht zu hören, das Brüllen der Lokomotive übertönte alle Geräusche.
    Fandorin sprang auf und eilte zum Fenster.
    Er sah Reiter mit Hüten und schwarzen Gesichtern neben dem Zug hersprengen und mit Gewehren auf den Waggon schießen. Da war’s, als ob ein glühend heißer Finger über seine Wange wischte – eine Kugel war dicht daran vorbeigeflogen. Fandorin warf sich zu Boden.
    In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken.
    Was war das für eine Teufelei? Wer waren die? Was wollten sie? Wenn es Indianer waren, warum trugen sie Hüte? Außerdem waren die Indianer rothäutig, und die da hatten schwarze Gesichter! Neger vielleicht?
    Er rollte sich über den Fußboden zum nächsten Fenster, das noch heil war, und spähte hinaus.
    Nein, Neger waren es nicht. Sie hatten

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