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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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unaufdringliche Bedienung, bequeme Sessel, die zur Nacht in Betten verwandelt wurden, eigene Sanitärzelle, ein Raucherzimmer und schließlich ein recht passables Restaurant. Selbst in Russland, dem Land der weiten Bahnstrecken, war ihm solcher Komfort nicht begegnet.
    Aber in Cheyenne, der Hauptstadt des unlängst gegründeten Bundesstaates Wyoming, musste er seine Vorstellung vom wahren Luxus auf Rädern revidieren.
    Colonel Star, dessen Unterschrift auf dem Brief und dem Scheck stand, konnte den Detektiv wegen unaufschiebbarer Verpflichtungen nicht selbst abholen, aber er schickte seinen persönlichen Steward, der ihn entschuldigte und Fandorin bat, in die Lokalbahn umzusteigen, die Mr. Fendorin und seinen Gehilfen nach Crooktownbringen werde, die Hauptstadt des Countys Crook, wo sich die Firmenzentrale des Magnaten befand.
    Fandorin hatte etwas wie einen Vorortzug erwartet, gezogen von einer kurzatmigen Lokomotive und bestehend aus zwei, drei hölzernen Waggons. Der Zug von Cheyenne nach Crooktown sah eigentlich auch genauso aus. Mit einer Ausnahme: Vor dem Postwagen und dem tatsächlich unscheinbaren Personenwaggon war gleich hinter der Lok etwas Unvorstellbares angekuppelt – ein lackglänzendes, chromfunkelndes Meisterwerk der Eisenbahnkunst, eine veritable fahrbare Villa. Samtportieren an den Fenstern, Kristalllampen, auf den Stufen flauschige Läufer und über die ganze Wand unter einem golden schimmernden Stern goldene Buchstaben: Maurice Star of Crooktown.
    Dieses Wunder, den Steward inbegriffen, wurde dem namhaften Gast zur alleinigen Nutzung überlassen.
    »Herr, wir wollen den Fall übernehmen«, sagte Masa, der den kleinsten und leichtesten Koffer trug (die beiden anderen schleppte der beflissene Steward). »Man sieht gleich, der Auftraggeber ist ein ehrenwerter und höflicher Mann.«
    Beim Eintreten ließ der Japaner das Köfferchen fallen, riss die Augen weit auf und murmelte:
    »Du meine Güte …«
    Auch Fandorin, das sei zugegeben, war perplex.
    Im Diwanzimmer (so hieß der erste Salon) Spiegelwände, die Diwane mit gemustertem Samt bezogen, die Fußböden aus Intarsienparkett. Der nächste Raum war das Speisezimmer; dort stand ein bereits gedeckter Tisch, der Glanz von poliertem Silber blendete die Augen. An den Wänden hingen Bilder holländischer Meister, und Fandorins geübtes Auge erkannte sofort, dass es Originale waren.
    »Wann befehlen Sie den Lunch, Sir?«, fragte der Steward.
    »Später, später«, stöhnte Masa lüstern, nachdem er einen Blickin den nächsten Raum geworfen hatte. »Herr, wollen Sie ein Wannenbad nehmen?«
    Mitten in dem großen Badezimmer stand eine bronzene Schale, die mit vier Löwentatzen auf einem Marmorpostament ruhte. Dampf stieg auf, also war gerade erst heißes Wasser eingelassen worden.
    Fandorin schüttelte den Kopf.
    »Nein, ich will erst mal die P-Presse durchsehen.«
    Er hatte auf einem Tischchen im Diwanzimmer einen Stapel Zeitungen entdeckt.
    »Na, dann ich.«
    Masa begann sofort, sich auszuziehen. Fandorin trat ans Fenster und musterte die Fahrgäste, die in den Wagen nebenan stiegen.
    Es waren ganz gewöhnliche Menschen ohne Besonderheiten. Dass sie den Stutzer im schneeweißen Anzug anstarrten, war ganz natürlich. Nur eines ließ Fandorin staunen: Unter den Reisenden waren ganz wenige Frauen, und die Männer waren fast alle bewaffnet, trugen zumindest einen Revolver im Halfter, manche hatten aber auch ein Gewehr. Merkwürdig. Die Zeitungen schrieben, dass es in dieser Gegend keine Zusammenstöße mit den Rothäuten mehr gebe. Die Cheyennes, die Sioux und die wilden Shoshonen hätten längst das Kriegsbeil begraben und säßen friedlich in ihren Reservaten.
    Die Glocke ertönte. Die Lokomotive pfiff ungeduldig.
    Der Zug rollte an.
    Fandorin blickte auf die gelbgrüne Steppe, von den Amerikanern »Prärie« genannt, sann aber nicht über Colonel Star und seine »geheimnisvolle Angelegenheit« nach, sondern über den technischen Fortschritt.
    Noch vor wenigen Jahrzehnten waren die Neusiedler mit Pferdegespannen über Tausende Meilen durch Staubwolken in Richtung des Pazifik gezogen, hatten unvorstellbare Entbehrungen auf sichgenommen und riskiert, ihren Skalp zu verlieren. Jetzt war die gefährliche Reise von einem Ozean zum anderen, die Monate gedauert hatte, auf fünf Tage und Nächte geschrumpft, und man konnte sie mit allem Komfort bewerkstelligen, ein Buch lesend oder über die Ewigkeit nachdenkend. Der eigentliche Sinn des Fortschritts lag indes

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