Das Halsband des Leoparden
Fandorin zurückkam.
Auf dem Hof war niemand mehr, die Familie hatte den geistig verwirrten Grafen ins Haus gebracht, doch Berkeley-House schlief nicht – die Fenster des großen Salons waren erleuchtet.
»Und, welcher von den dreien?«, fragte Fandorins Wirtin lebhaft.
»Keine Überraschungen«, erwiderte er kurz und rückte sich einen Stuhl heran.
Miss Palmer war enttäuscht.
»Schade. Ich hatte so gehofft, dass es der Mittlere war. Geoffrey hat recht – er ist der Widerlichste von allen.«
Der Butler drehte verblüfft den Kopf hin und her, bemüht, den Sinn dieses rätselhaften Dialogs zu entschlüsseln.
»Nein, nein, erzählen Sie nichts!«, gebot die alte Dame. »Ich will es selbst erraten. Er hat Jim mit irgendeinem Auftrag fortgeschickt, nicht wahr?«
»Das wäre zu sehr a-aufgefallen. Er stieß wie zufällig mit dem Diener zusammen, als dieser dem Grafen die abendliche Milch brachte. Bis Jim sich umgezogen hatte, bis er in der Küche neue Milch warmgemacht hatte, verging rund eine halbe Stunde. Mehr als genug.«
»Genug wofür?«, rief der endgültig verwirrte Mr. Parsley. »Ich verstehe überhaupt nichts! Wovon reden Sie?«
»Vom Hauptmann, von wem sonst?« Miss Palmer schenkte Fandorin Tee ein. »Ich hatte ihn von Anfang an in Verdacht. Zum Geburtstag des Vaters zu erscheinen, bei dem es nichts zu holen gibt – das sieht Tobias gar nicht ähnlich. Außerdem hat er viel Geld verloren und ist über beide Ohren verschuldet.«
Der Löffel des Butlers klirrte in der Tasse.
»Der Ehrenwerte Tobias hat seine eigene Familie bestohlen? Aber das ist unmöglich!«
»Wieso denn?« Miss Palmer nahm dem Butler den Teelöffel weg und legte ihn auf die Tischdecke. »Wo der Schlüssel zum Sekretär liegt, wusste er bestimmt. Er holte die Aktentasche heraus und nahm das Collier an sich, sorgte dafür, dass der Diener verschwand, band den Vater von seinem Rollstuhl los und brachte ihn in den Garten. Vermutlich flüsterte er ihm etwas ins Ohr, etwa: ›Molly wartet auf Sie‹, und da lief der Alte los, zum Rendezvous. Undzwar, laut Aussage des Ladenjungen ›ziemlich forsch‹. Dem Alten die Aktentasche unter den Arm zu klemmen war nicht weiter schwierig – in den vielen Jahren als Bankdirektor hatte er sie immer bei sich getragen.«
»Nein! Sie irren sich!« Mr. Parsley sprang auf und warf dabei fast den Stuhl um. »Ich war immer Ihrer Meinung, aber diesmal irren Sie! Wenn wirklich jemand aus der Familie mit dem Raub zu tun hätte, wäre doch in erster Linie das beschämende Testament vernichtet worden. Das aber ist unversehrt!«
»Zerschlagen Sie mir nicht das Mobiliar, Peter. Solche Stühle fertigt heute niemand mehr. Was hätte es für einen Sinn, das Testament zu vernichten, da doch eine Kopie davon beim Notar liegt?«
Der Butler ließ sich schwerfällig wieder auf den Stuhl sinken, als habe man die Luft aus ihm herausgelassen.
»Mein Gott, was sind das für Zeiten«, sagte er dumpf. »Es hat in der Geschichte der Familie so manches gegeben, aber ein Erbstück stehlen und die Schuld dem Vater zuschieben … Was wird nur aus England? Und das Schlimmste ist: Das Verbrechen wird ungesühnt bleiben. Wo soll man jetzt nach dem Collier suchen? Der Ehrenwerte Tobias wird es wohl kaum verraten.«
Miss Palmer streichelte die Hand ihres alten Freundes.
»Seien Sie unbesorgt. Das Collier wird sich wieder anfinden. Der Hauptmann hat doch seit gestern das Haus nicht verlassen, oder? Ich denke, es ist an dem einzigen Ort versteckt, den niemand außer Tobias selbst betritt.« Sie wandte sich zu Fandorin, der mit Appetit einen Keks aß. Merkwürdig – er fand allmählich Geschmack an diesem staubtrockenen Gebäck. »Mein lieber Erast, ich fürchte, diese Aufgabe bewältige ich nicht allein. Dafür braucht es die Kühnheit eines Lancelot und die Kraft eines Herakles.«
»Weder das eine noch das andere war vonnöten«, erwiderte Fandorin und wischte sich mit einer Serviette den Mund ab. »Ich musste Skalper nur hinterm Ohr kraulen, und schon ließ er sichb-bereitwillig das Halsband abnehmen. Sie hatten absolut recht. Das Collier war darin versteckt.«
Er zog eine fröhlich funkelnde Kette aus der Innentasche und legte sie auf den Tisch.
»Ich habe m-meinem Freund auf dem Rückweg vom Pförtnerhäuschen einen Besuch abgestattet.«
Im Schatten der Teekanne, wohin das Licht der Lampe nicht gelangte, schien das Collier nicht sonderlich eindrucksvoll. Ohne ihr Funkeln und Glitzern wirkten die Steine wie geschliffenes
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