Das Halsband des Leoparden
Broadway waren noch notdürftig von Gaslaternen beleuchtet, doch dann kamen stockdunkle Gässchen, und Fandorin nahm seine Dynamolampe zur Hand. Wenn er die Feder drückte, gab sie Licht. Und für die Hand war es ein Training.
Als es nach Meer zu riechen begann, wusste Fandorin, dass der Hudson nahe war. Er blickte in die Runde und sah in der Ferne die flache Silhouette der Battery. Also hatten die Füße ihn nach Manhattan getragen.
Vorbei an Lagerhallen und Hafenkränen ging er bis ans Wasser und blieb am Geländer stehen.
Die Sonne war schon untergegangen, doch am Himmel hielt sich noch ein Nachgeschmack des Abendrots. Fern auf der Insel Bedloes ragte wie eine Schachfigur die Freiheitsstatue empor. Auf einem Zacken ihrer Krone blitzte ein Abschiedsfünkchen des scheidenden Lichts.
Das ist sehr schön, das Fünkchen auf der Krone macht das Panorama vollkommen, sagte der Verstand. Ohne die Statue aber wäre es noch schöner, sagte der Geist.
In diesem Moment erfasste Fandorin (mit dem Augenwinkel? dem Gehör? den Nervenenden? – Das weiß nur Gott!) eine mikroskopisch kleine Bewegung hinterm Rücken. Geist und Verstand erstarrten, doch der Körper zwang ihn zu einem jähen Sprung zur Seite.
Dicht an seinem Ohr vorbei ein räuberisches Zischen, und einen Sekundenbruchteil darauf krachte der Schuss. Fandorin, der drei Handlungen gleichzeitig ausführte (hinhocken, auf dem Absatz umdrehen und den Revolver unterm Gehrock hervorziehen), entging mit knapper Not der zweiten Kugel – der durchschossene Zylinder flog vom Kopf ins Wasser; es war übrigens eine Maßanfertigung aus der Jermyn Street, in Amerika war solch einer nicht zu kriegen. Dafür hatte er jetzt gesehen, von wo die Schüsse kamen.Das Feuerpünktchen war an der Mauer eines unbeleuchteten Lagerhauses aufgeblitzt. Dem Knall nach war es eine großkalibrige Waffe gewesen, und ein vorzüglicher Schütze hatte geschossen – sehr genau, und das aus großer Entfernung. Einen dritten Schuss durfte Fandorin ihm nicht erlauben, denn vor dem Hintergrund des noch nicht ganz dunklen Himmels war seine Silhouette ein gar zu deutliches Ziel. Darum riss er die Hand mit dem Herstal hoch und feuerte aufs Geratewohl alle sieben Patronen ab. Für den kurzläufigen Revolver, bei dem es vor allem auf die Feuergeschwindigkeit ankam, war die Distanz zu groß, gleichwohl folgte kein dritter Schuss aus dem Dunkel.
Als das Dröhnen in den Ohren vorüber war, lauschte Fandorin, der flach auf der Erde lag, in die Stille und begriff, dass bei dem Lagerhaus niemand mehr war. Vorsichtig stand er auf, lud die Trommel nach und rannte zu der Stelle, von der die Schüsse gefallen waren. Kein Mensch zu sehen.
Der Mann, der ihn hatte töten wollen, war in dem Gang zwischen zwei Lagerhallen verschwunden. Ihn zu verfolgen wäre sinnlos und riskant gewesen.
Fandorin verschob die Deduktion auf später und untersuchte die Treffergenauigkeit des Herstal. Das Licht seiner Dynamolampe fand in der Bretterwand sechs Bleikugeln auf einem Meter Länge, das war gar nicht so schlecht. Aber wo war die siebente?
Nach langem Suchen fand er sie auf dem Erdboden.
Er hob sie auf und untersuchte sie.
Die Spitze war abgeplattet wie von einem Aufprall auf Metall. Merkwürdig. In der Wand gab es keinen Bolzen, keinen Nagel.
Aber was blinkte da?
Er pumpte die Lampe auf Vorrat, damit sie nicht ausging, klemmte sie unters Kinn, holte die Lupe aus der Tasche und richtete sie auf die Kugel.
Das war unbequem und zu dunkel, aber er sah in winzigenKratzern auf der Kugel mikroskopisch kleine gelbe Partikel blinken. Gold etwa?
Er steckte den Fund in das Täschchen des Halfters und ging den weggeworfenen Stock suchen. Schon stieß der Verstand ungeduldig den Körper beiseite und bastelte an Erklärungen.
Die erste war die langweiligste.
Der triviale Versuch eines Raubüberfalls. In dieser Stadt gab es eine Menge Leute, denen ein Menschenleben keine Kopeke, will sagen, keinen Cent wert war. Der Täter sieht einen eleganten Herrn, der sich an eine einsame Stelle verirrt hat. Um nichts zu riskieren, schießt er aus sicherer Entfernung, um dann der Leiche alles Wertvolle abzunehmen. Diese Version ging Fandorin durch den Kopf, doch er verwarf sie, nicht weil sie unwahrscheinlich, sondern weil sie aussichtslos war. Zufälle lassen sich nicht berechnen, jedenfalls nicht in der Kriminalistik.
Die zweite Variante: Der Angriff konnte zusammenhängen mit dem Auftrag, den er soeben von Pinkerton erhalten hatte. Doch nach
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