Das Handwerk des Teufels - Pollock, D: Handwerk des Teufels
Herrje, ich erinnere mich noch an den Tag, als er zu Gott fand.«
»Schon in Ordnung«, winkte sie ab. »Bringt ja nichts, die Toten auch noch schönzureden, Albert. Ich weiß, was für ein Mann mein Sohn war. Lass einfach nur seinen Sohn in Ruhe, mehr verlange ich gar nicht.«
Lenora wiederum konnte von der Kirche nicht genug kriegen. Wohin sie auch ging, stets hatte sie eine Bibel bei sich, selbst auf dem Klo, genau wie Helen; und jeden Morgen stand sie vor allen anderen auf und betete eine Stunde lang kniend auf dem splitterigen Dielenboden neben Emmas und ihrem Bett. Sie hatte zwar keinerlei Erinnerungen an ihre Eltern, doch die meisten Gebete waren an die Seele ihrer ermordeten Mutter gerichtet, und die meisten der stummen Gebete darauf, endlich Nachricht von ihrem vermissten Vater zu erhalten. Die alte Emma hatte ihr immer und immer wieder gesagt, es wäre am besten, Roy Laferty einfach zu vergessen, doch Lenora konnte nicht anders, sie fragte oft nach ihm. Bald jeden Abend schlief sie mit seinem Bild vor dem geistigen Auge ein – wie er in einem neuen schwarzen Anzug auf die Veranda trat und alles richtigstellte. Dieses Bild war ihr ein kleiner Trost, und sie erlaubte sich die Hoffnung, dass ihr Vater mit Gottes Hilfe tatsächlich eines Tages zurückkehren würde, wenn er denn noch lebte. Mehrmals die Woche ging sie bei Wind und Wetter auf den Friedhof, saß auf dem Boden neben dem Grab ihrer Mutter und las laut aus der Bibel, vor allem die Psalmen. Emma hatte ihr mal erzählt, dass das Buch der Psalmen Helens Lieblingsstelle in der Heiligen Schrift gewesen war, und gegen Ende des sechsten Schuljahres konnte Lenora alle Psalmen auswendig.
Der Sheriff hatte schon seit Langem die Hoffnung aufgegeben, Roy und Theodore noch aufzustöbern. Es war, als hätten sie sich in Geister verwandelt. Niemand konnte ein Foto oder irgendwelche Unterlagen zu den beiden finden. »Verdammt, selbst die Irren oben in Hungry Holler haben Geburtsurkunden«, brachte er als Entschuldigung vor, wann immer ein Bewohner seines Wahlkreises auf das Verschwinden der beiden zu sprechen kam. Er verriet Emma nichts von dem Gerücht, das er direkt nach ihrem Abgang aufgeschnappt hatte: dass der Krüppel in Roy verliebt gewesen sei, und dass da irgend so eine verrückte Homo-Sache zwischen den beiden im Gange gewesen sein könnte, bevor der Prediger Helen heiratete. Während der ersten Ermittlungen hatten mehrere Leute bezeugt, dass Theodore sich bitter darüber beklagt habe, die Frau hätte Roys spiritueller Botschaft die Schärfe genommen. »Eine Muschi hat schon so manch guten Mann ruiniert«, habe der Krüppel gesagt, wenn er einen sitzen hatte, »von wegen Prediger, der denkt doch nur noch darüber nach, wie er seinen kleinen Roy ins Feuchtgebiet kriegt.« Es ärgerte den Sheriff maßlos, dass diese beiden verdammten Perversen in seinem County vielleicht einen Mord begangen hatten, für den er sie nicht belangen konnte; aus diesem Grunde wiederholte er immer wieder dieselbe alte Geschichte, dass aller Wahrscheinlichkeit nach derselbe Freak, der die Familie in Millersburg niedergemetzelt hatte, auch Roy und Theodore in Stücke gehackt oder ihre Leichen in den Greenbrier River geworfen habe. Er erzählte diese Geschichte so oft, dass er sie manchmal schon selbst glaubte.
Arvin bereitete ihr nie wirklich Schwierigkeiten, doch Emma entdeckte schnell Seiten von Willard an ihm, vor allem, wenn es ums Prügeln ging. Bis Arvin vierzehn war, war er mehrmals aus der Schule verwiesen worden, weil er jemanden geschlagen hatte. Du musst nur den richtigen Augenblick abwarten, hatte sein Vater ihm eingebläut, und Arvin lernte diese Lektion gründlich und attackierte den Feind, wer immer das in dem Augenblick auch war, allein und unerwartet auf der Toilette oder auf der Treppe oder in der Umkleide in der Turnhalle. Eigentlich jedoch war er in ganz Coal Creek für seine freundliche Art bekannt, und man musste ihm zugutehalten, dass er sich den meisten Ärger Lenoras wegen einhandelte, wenn er sie vor irgendwelchen Halbstarken beschützte, die sich über ihre strenggläubige Art, ihr verkniffenes Gesicht und diese verdammte Haube lustig machten, die sie trug. Obwohl sie ein paar Monate jünger war als Arvin, wirkte sie schon vertrocknet, ein blasser Wintersprössling, der zu lang in der Furche gestanden hatte. Er liebte sie wie eine eigene Schwester, aber sie konnte ihm auch peinlich sein, wenn er in der Früh das Schulhaus betrat und sie ihm
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