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Das Handwerk des Toetens

Das Handwerk des Toetens

Titel: Das Handwerk des Toetens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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hätte sie es sein können, die ihn hinausschickte ins Nichts, und ich brauchte eine Zeitlang, bis ich begriff, daß es ihre Art war, auf die Obszönität zu reagieren, dasitzen und zuhören, aber nicht eingreifen zu können. Dabei war sie so überzeugend, daß ich mich der Illusion hingab, es passierte alles jetzt in diesem Augenblick, und wenn ich mir im nachhinein immer einzureden versuchte, ich war von dem, was dann mit ihm geschah, überrascht, stimmte es nicht, oder nicht ganz, war es in Wirklichkeit doch so, daß ich mehr und mehr dazu neigte, zu glauben, ich hätte es insgeheim schon erwartet und sein Schicksal vorausgesehen.
    Zumindest hatte der Satz, der dann folgte, seine schreckliche Logik, verlangte nicht sonderlich viel Phantasie.
    »Jetzt können Sie es selbst versuchen.«
    Das war wieder Slavko, und Paul mochte später noch so oft zurückspulen und sich die Stelle anhören, solange er wollte, es blieb dabei, er hatte gesagt, was er gesagt hatte.
    »Wenn Sie kein Theater machen, ist es ganz einfach«, fuhr er fort. »Sie brauchen sich nur an das zu halten, was ich Ihnen erkläre.«
    Dann war er plötzlich ganz nah.
    »Worauf warten Sie noch?«
    Es war auffallend, daß Allmayer nach wie vor schwieg, während der Dolmetscher auf Slavko einredete und ihn bat, seine Scherze zu lassen. Merkwürdigerweise sprach er deutsch mit ihm, und wenn er gerade noch ängstlich gewirkt hatte, gab er sich auf einmal selbstbewußt, ob er es in Wirklichkeit war oder nicht. Er erlaubte sich sogar einen spöttischen Unterton, wenn er ihn keptn nannte, und hörte nicht auf, ihn zu bedrängen, bis er von ihm angeherrscht wurde, endlich den Mund zu halten oder hinter dem Gefangenen her auf die andere Seite hinüberzuwechseln, wo sie sicher ein Ohr für seine Dummheiten hätten.
    Ich weiß noch, daß ich den Knall zuerst nicht für einen Schuß hielt und Paul anstarrte, der das Band reflexartig gestoppt und sofort wieder gestartet hatte. Doch ich brauchte nur seinen Gesichtsausdruck zu sehen, um nicht den geringsten Zweifel zu haben, und dennoch kommt es mir jetzt wie ein Versuch vor, die Gewißheit aufzuschieben, eine Ausflucht, nicht selbst denken zu müssen, keine Verbindung herzustellen zwischen dem Geräusch und seinem Auslöser und statt dessen einzig und allein zuzuschauen, wie er reagierte. Es waren ohnehin nur ein paar Augenblicke, in denen ich beobachten konnte, wie sich seine Miene verfestigte, starr wurde, und auch wenn ich in der Erinnerung immer durcheinanderbringe, was zuerst kam, Allmayers Aufschrei oder der von Helena, war es jedenfalls eine Erleichterung.
    Denn dann meldete sich auch schon Slavko zu Wort.
    »Koja budala je pucala?«
    Er zögerte, als wollte er dem Dolmetscher Zeit geben, es zu übersetzen, aber der sagte nichts, und auf einmal überschlug sich seine Stimme, und er schrie.
    »Koja budala je pucala?«
    Das war das letzte, was zu hören war, die Frage, welcher Idiot geschossen hatte, und ich weiß nicht, warum dann nur mehr dieses Rauschen folgte, das sich regelrecht in den Raum hineinfraß, ob die Aufnahme unterbrochen worden war oder was sonst der Grund sein mochte. Ich kann nicht einmal sagen, woher ich die Gewißheit nahm, daß der Schuß dem Gefangenen gegolten hatte, und noch weniger, weswegen ich keinen Zweifel hatte, daß er auch getroffen worden war, aber es muß etwas mit Allmayers Entsetzen zu tun gehabt haben und der Tatsache, daß auch Slavko die Ruhe verloren hatte. Es dauerte ein paar Minuten, bis das Band zu Ende war, Minuten, in denen ich auf eine Erklärung hoffte, oder gar eine Entwarnung, obwohl ich es besser wußte, Minuten, die langsam verstrichen, und ich erinnere mich noch, wie Paul zu guter Letzt anfing, zurückzuspulen und hier eine Stelle abzuspielen oder dort, um schließlich immer wieder bei dem Knall hängen zu bleiben, der von Mal zu Mal dünner klang.
    Ich hatte ihn noch nie so gesehen, zusammengesunken, wie er dasaß, ganz und gar in sein mechanisches Ein- und Ausschalten vertieft, bis ihm Helena eine Hand auf die Schulter legte, als wollte sie ihn damit auffordern, es endlich gut sein zu lassen. Er wirkte müde, als er zu ihr aufsah, und der Blick, den ich dabei auffing, hatte etwas Hoffnungsloses, die plötzliche Desillusioniertheit von jemandem, der merkte, daß seine Wiederbelebungsversuche gescheitert waren und er sich schon lange vergeblich an einem Toten abgemüht hatte. Das war es auch, was sie ausstrahlte, und als er sich dann eine Zigarette anzündete und

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