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Das Handwerk des Toetens

Das Handwerk des Toetens

Titel: Das Handwerk des Toetens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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noch einmal klar, als ich ihn beim Gehen bat, mir Allmayers Artikel bis zum nächsten Tag zu überlassen, damit ich sie kopieren konnte. Am liebsten hätte er nein gesagt, so mißtrauisch war er, so offensichtlich schien in seiner Frage, wozu, wieder die Angst durch, etwas hergeben zu müssen, und als er doch zustimmte, nahm er mir das Versprechen ab, sie ihm am Morgen vor seiner Abfahrt zum Bahnhof zu bringen. Schließlich machte er sich auch noch die Mühe, sie durchzunumerieren, und während er laut mitzählte und seine übertrieben großen Ziffern an den unteren Rand jedes Blattes setzte, nahm ich den Geldschein in die Hand, der aus dem Stapel herausgefallen war, drehte und wendete ihn und wedelte damit vor seinem Gesicht herum.
    Es waren fünfhundert Millionen Dinar, ausgegeben von der Serbischen Republik Krajina in Knin, und es lag nicht nur an dem absurden Betrag, daß etwas geradezu Gespenstisches davon ausging, sondern auch an dem unseligen Staatsgebilde, das nicht mehr existierte, etwas wie vom Ramsch der Devotionalienhändler, von den Emblemen, Orden und Waffen untergegangener Terrorregime, dieselbe Unwirklichkeit, in der ich mir nur schwer Menschen aus Fleisch und Blut vorstellen konnte, die fünf Jahre davor noch damit gehandelt hatten.
    »Was, glaubst du, hat man dafür gekriegt?«
    Es war eine unsinnige Frage, und ich wußte es, noch bevor ich sie gestellt hatte, aber Paul nahm mir nur den Schein aus der Hand und lachte, während er ihn sorgfältig faltete und einsteckte.
    »Alles, was das Herz begehrt«, erwiderte er mit einer weit ausholenden Geste, die dem Ansager bei einem Fernsehquiz Ehre gemacht hätte. »Offenbar hat man sogar im Hinterland mit den richtigen Verbindungen noch in den schlimmsten Zeiten über sämtliche Fronten hinweg frischen Fisch von der Adria bekommen.«
    Das war eine Aussage, auf die ich nicht besonders achtete, weil ich sie nicht ernst nahm, und die mir doch in Erinnerung geblieben ist, um so mehr, als ich längst vermute, daß sie stimmt, aber statt nachzuhaken, fragte ich ihn nur, ob er sein groteskes Souvenir von Helena hatte, und gab mich zufrieden, als er ein Grinsen aufsetzte und abwinkte.
    »So etwas würde sie nie in die Hand nehmen.«
    Ich weiß noch, daß ich mich dann gleich verabschiedete und ging, den Alten Wall hinauf, über den Rathausmarkt, den Neuen Wall hinunter, auf der Suche nach einem Kopiergeschäft, und als ich am Jungfernstieg die S-Bahn nach Altona nahm, wo ich damals wohnte, begann ich schon, Allmayers Artikel zu studieren. Zu Hause angelangt, rief ich in der Redaktion an und meldete mich für den Journaldienst, den ich am Abend vertretungsweise übernehmen sollte, krank, machte mir eine Thermoskanne Kaffee und legte mich mit den Papieren auf das Sofa, und ich würde gern sagen, es war eine Fieberwelt, in die ich eintauchte, aber die schlimmsten Alpträume meiner Kindheit waren harmlos dagegen. Als ich zur letzten Seite gelangte, wurde es gerade dunkel, über den Dächern der gegenüberliegenden Häuser hing löchrig der Himmel in seinem letzten Blau, und plötzlich fiel mir auf, daß ich die ein- und ausfahrenden Züge vom nahegelegenen Bahnhof die ganze Zeit nicht wahrgenommen hatte, ihren Takt, der sonst meine Tage zerteilte, und ich dachte an Helena, es hätte auch irgendeine Frau sein können, aber ich versteifte mich auf sie, überrumpelt von der unsinnig sentimentalen Vorstellung, mit ihr gemeinsam diesen Krieg überlebt zu haben, zu ihr zurückzukommen, nachdem alles vorbei war, oder, noch besser, einfach zurückzukommen, so paradox es klingen mag, ich wollte dafür kein Abenteuer bestehen müssen wie ein verblendeter Großleinwandheld, zurückzukommen, ohne überhaupt weggewesen zu sein.
    Es waren nicht die offensichtlichen Grausamkeiten, die mich beim Lesen am meisten verwirrten, nicht die Greuel, deren Zeuge Allmayer in all den Jahren geworden war oder von denen er gehört hatte, nicht die Bilder von menschenleeren bosnischen Dörfern, in denen streunende Hunde die zwischen den zerschossenen Gebäuden herumliegenden Leichen zerrissen. Die Beispiele, die er aufzählte, waren so zahlreich, daß ich mich über nichts gewundert hätte, anscheinend gab es keine Grenzen dafür, was man mit dem menschlichen Körper alles anrichten konnte, und ich staunte nur, welche Phantasien bis dahin mehr oder weniger unbescholtene Leute, wie man wohl sagen mußte, entwickelt haben sollen, was für ein Vergnügen, einen Gefangenen zu zwingen, einem anderen

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