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Das Handwerk des Toetens

Das Handwerk des Toetens

Titel: Das Handwerk des Toetens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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Vergleich abwegig, er sei davon so getroffen gewesen wie sonst nur von einer unberührten, weiten Schneefläche zu Hause, die sich von einem Nichts zum anderen erstreckte. Es klang im ersten Augenblick vielleicht wie ein Widerspruch, wenn er schrieb, es sei ihm nur absurd vorgekommen, daß es genau um diese Ödnis überhaupt einen Konflikt hatte geben können, wenn ohnehin jeder, der bei Sinnen war, nichts als weg wollte, aber mir wurde schnell klar, daß die Leute ihren Flecken Heimat genau deswegen bis auf den letzten Tropfen Blut verteidigten, aus einem paradoxen Festhalten an etwas, das in Wirklichkeit gar nicht existierte, sich wehrten, statt einfach zu gehen, die Verlorenheit ein für alle Mal hinter sich zu lassen, die viele Dörfer in der Gegend wahrscheinlich auch vor ihrer Zerstörung ausgestrahlt hatten, ein paar Kilometer vom Meer und doch so weit weg, so weit außerhalb der Welt, wie sie nur sein konnten, diese sonnengebackenen paar Häuser in der Leere und Kargheit des Karsts.
    Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es stimmt, habe ich Allmayers Behauptung nicht vergessen, Knin sei der schrecklichste Ort auf dem ganzen Balkan, wenn es schneite, aber es schneite nicht, es war mitten im Sommer, einundvierzig Grad, wie im Radio verkündet wurde, eine grelle, blendend scharfe Hitze, als wir dorthin kamen. Die Festung, der Bahnhof, ein krudes Siegesdenkmal davor, ein Soldat mit hochgereckten Armen, eine Maschinenpistole in der Hand, die hinaus- und hineinführenden Schienenstränge, die Schlote einer Schraubenfabrik, die ihm aufgefallen waren, und ich weiß noch, daß ich seine Worte wieder im Kopf hatte, es gebe dort einen besonders paranoiden Menschenschlag, an die Formulierung dachte, schon bevor ich die Uniformierten an den Straßenecken bemerkte, und mit welcher Hartnäckigkeit uns die Leute überall nachschauten. Ihm zufolge muß es während des Krieges in der Gegend von Kriminellen gewimmelt haben, er hatte von einer Tschetnik-Hochburg gesprochen, wenn ich nichts durcheinanderbringe, aber als wir im Schritttempo durchfuhren, waren es nur die paar neugierigen Gestalten, die herumlungerten und kaum die Energie zu mehr aufbrachten, eine aggressive Beflaggung und sonst buchstäblich nichts. Zweifellos hatte er recht, ob mit Serben oder, nachdem man sie vertrieben hatte, ohne sie, es war ein elendes Nest, und als Paul dann auch noch erzählte, daß nicht weit nördlich davon die ehemalige österreichische Militärgrenze verlaufen war, mit ihrem traurigen Mythos von den treuesten Untergebenen und tapfersten Kämpfern der gesamten Monarchie, der Kordon von befestigten Anlagen und Wachhäusern gegen die Türken, der zur Zeit seiner größten Ausdehnung von der adriatischen Küste über Slawonien und das Banat bis Siebenbürgen gereicht hatte, kamen mir die Häuser noch niedergedrückter vor, und ich war froh, als wir sie hinter uns ließen, und mit ihnen den Mief eines Garnisonsstädtchens aus einem anderen Jahrhundert, dessen Schicksal es seit je gewesen ist, Durchgangslager und isoliertes Rückzugsgebiet zu sein.
    Ich erinnere mich, daß Helena fast die ganze Fahrt über geschwiegen hat und erst aufgewacht ist, als wir uns dem Dorf ihrer Großmutter näherten. Der ungewohnt ironische Ton, den sie plötzlich anschlug, machte mich glauben, sie wollte sich für alles entschuldigen, hatte Angst, wir könnten zu große Erwartungen haben und enttäuscht sein, wenn wir dort ankamen. Dabei hatte ich mir nichts anderes vorgestellt, als was es dann war, ein kleines Steinhaus, vier karge, ärmliche Räume, zwei unten, zwei oben, mit insgesamt drei Abendmahlszenen und einem vergessenen Pinup-Kalender aus den siebziger Jahren an den Wänden, und es schmerzt mich, auch nur daran zu denken, wie sie eine Tür nach der anderen mit einer Achtlosigkeit aufgestoßen hat, als ginge es ihr darum, das Paradies ihrer Kindheit selbst zu vandalisieren, bevor wir es mit unseren Blicken taten.
    Die alte Frau kochte in der Küche Kaffee, und ich war froh, daß sie nichts von alldem mitbekam, wenn sie Helena von Zeit zu Zeit etwas zurief, ohne auf eine Antwort zu warten. Sie hatte sie zur Begrüßung abwechselnd von sich weggehalten und an ihre Brust gedrückt, und ich sah sie immer wieder nach ihrem Arm fassen, wie um sich zu vergewissern, daß sie tatsächlich da war. Zwischen den einzelnen Sätzen, die sie zu ihr sagte, machte sie lange Pausen, wiederholte dabei aber jedesmal ihren Namen, und wenn ich später daran dachte, erinnerte ich

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